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Der Unterschied

Neulich an der Empfangstheke: Ein DHL-Mitarbeiter hält mir das Quittungsgerät entgegen, ich unterschreibe auf dem Display und erhalte dafür ein Paket. Der Zusteller bedankt sich, wünscht mir einen guten Tag und saust davon. Im Prinzip sind sie alle gleich: Jüngere Männer, ausländischer Akzent, immer in Eile. Sie haben einen lausigen Job, weil sie wahrscheinlich zu wenig Bildung haben, ich denke mir nie viel dabei. Nur jetzt. Weil ER wieder da war. Einer, bei dem meine Einschätzung einen Zusatz erhält: „… hat einen lausigen Job, weil er zu wenig Bildung hat *aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse*. Sonst wäre er nicht Fahrer bei DHL, sondern etwas anderes.“

Ich überlege gerade, warum ich nur ihn in einer Art Übergangsbeschäftigung sehe, wie einen Studenten sozusagen, der in den Semesterferien etwas dazu verdient. Und der Unterschied zu den anderen ist: Er riecht so gut. Er benutzt ein atemberaubendes Deo oder Parfum. Einen Tick zu viel vielleicht. Aber wer so einen Duft hinterlässt, der kann kein Wasserträger sein. Er legt Wert auf seine Erscheinung, also auch auf seinen Platz in der Welt, also auch auf sein Fortkommen.

Dämliche Schlussfolgerung? Egal. ICH glaube an ihn!

Erkenntnis des Tages

Ich schlage eine dieser Hochglanz-Zeitschriften mit einer Mischung aus Lebenshilfe und Einlullen auf: schöne Bilder und schöne Texte für schöne Momente im manchmal unschönen Leben. Zunächst kommen mehrere ganzseitige Fotos: Wehendes Haar mit Frau, Herbstblätter beim Tanzen, weiße Wolken auf dem Weg nach Hause usw. Darunter steht jeweils ein Sinnspruch, damit man nicht gleich so viel lesen muss: „Klarheit bringt der Wind des Wechsels“ zum Beispiel, oder „Den Samen vor sich hertreibend schließt sich der Kreis“, Yin und Yang und sowas. Ich blättere Seite um Seite um und betrachte in andächtiger Versunkenheit die Bilder. Nun folgt eine Seite mit zwei Essigflaschen. „So schön“, ist auch hier mein erster Impuls, aber irgenetwas stimmt nicht. Ach ja, es ist der Spruch: „Jetzt natürlich bei dm“. Damit kann ich nichts anfangen, welche Philosophie ist das denn? Erst nach ein paar Augenblicken kehre ich in die reale Welt zurück und merke, dass es eine Essigwerbung ist.

Man kann alles schön finden, stelle ich fest. Man muss nur in der Stimmung sein. Und etwas Schönes erwarten.

Das war mein Wort zum Dienstag.

Freiburg (131)

Ausgezählt

Noch vor einer Woche hätte es mich verdrossen, die kostbaren Stunden meines Wochenendes mit etwas anderem zu verbringen als Schlafen, Lesen, evtl. Spazierengehn. Heute hingegen habe ich in bester Laune aufgeräumt, eingekauft, Anrufe gemacht, Software getestet, Wäsche gebügelt, Mails beantwortet, Fahrrad geputzt. Lauter Mist, aber – mir egal. Ich habe ja keinen Count-down mehr. Es plärrt kein Miesmacher mehr im Ohr herum: „Der halbe Samstag weg und nix davon gehabt“, oder „Nur noch der Sonntag  übrig zum Erholen“, oder „Wochenende fast vorbei …“, und am Montagmorgen „ICH WILL NICHT!“

Fertig.

Kann ich mich heut nicht nett versorgen, verschiebe ich es halt auf morgen (oder so ähnlich).  Ohne Job hat man in mancherlei Hinsicht eine andere Wahrnehmung.

Vorbeigegangen

Wo habe ich meine Augen gehabt? Jeden Tag hätte ich es sehen müssen, wenn ich vom Parkplatz die paar Schritte zur Arbeit ging. Neben dem Firmengebäude steht nämlich ein Strommast. Das überrascht nicht weiter, auch kleine Orte wie dieser werden mit Elektrizität versorgt, und irgendwo muss sie ja her kommen. Heute aber fiel mir zum ersten Mal auf, dass  oben auf dem Holzpfahl Gestrüpp liegt. Dort, wo die Leitungen vom Mast wegführen, hängen außerdem Stofffetzen wie Überreste vom letzten Fasching. Es fand aber kein Umzug statt hier, und bunte Wimpel an Stromleitungen anzubringen, wäre auch ungewöhnlich.

Ich trat näher und erkannte Plastikstreifen, die um die Leitungen gelegt und festgetuckert waren. Auf dem Mast lagen Zweige, dass es aussah wie der Horst eines prähistorischen Flugsauriers, dessen Bewohner vor elektrischen Leitungen geschützt werden sollte. Ich lief ins Büro und fragte eine Kollegin: „Hast du gesehen, was auf dem Strommast da drüben ist?“ „Ja sicher, ein Storchennest. Das wird wieder ein Klappern, den ganzen Sommer hören wir es!“ Storchennest? Klappern? Seit letztem Frühjahr arbeite ich hier, Tag für Tag gehe ich vom Parkplatz zum Büro, die Fenster sind bei warmem Wetter offen. Aber dass zwanzig Meter weiter ein Strommast steht, der klappernde Störche beherbergt, habe ich nie gesehn, nie gehört.

Freilich, das letzte Jahr war kein Jahr wie andere, vieles nahm ich nicht wahr. Auch stellt sich immer wieder heraus, dass Dinge komplett aus meinem Gedächtnis verschwinden, als haben sie nur einen Besuch machen wollen. Es ist möglich, dass ich das Nest sah, erinnern kann ich mich daran aber nicht. Ich sah es heute zum ersten Mal.