Gestern Nachmittag: „Thank you Lord“ tönt es aus dem Radio, im Weihnachtsprogramm werden Gospels gespielt. Ich suche eine Klassik-CD für die Bescherung, Päckchen schimmern unter dem Christbaum. Das größte Geschenk in diesem Jahr und eines der größten in meinem Leben lässt sich freilich nicht darunter legen.
Ich will nicht weinen, nicht traurig sein, merke aber, wie Tränen hochsteigen. „Thank you Lord, hallelujah,“ wird von einer schwarzen Sängerin vorgetragen, „you’ve been so good to me“. Ja. Gott ist gut zu mir. Auch dieses Jahr lässt er mich mit allen meinen Kindern den Heiligen Abend feiern. Beschützt von tausend Engeln wurde eins davon schwer verletzt aus einem Fahrzeug geschnitten und gerettet. Ein halbes Jahr später kehrt er aus der Klinik zurück, es liegt noch ein Stück Weg vor ihm und vor der ganzen Familie. Aber er lebt. Er kann wieder gehen, sein Gehirn erholt sich, wir haben ihn noch.
Dann tauchen Bilder auf und fressen sich fest. Mein Junge, verwundet, mit Kabeln und Schläuchen an piepsende Geräte angeschlossen, routinierte Pfleger und Ärzte, der Geruch nach Desinfektionsmitteln. Die Besuche in der Intensivstation einer 100 km entfernten Klinik, täglich, wochenlang. Wie ich funktionierte trotz allem, erst Monate später ließ die Kraft nach. Ich denke an die anderen Kinder und wie verstört sie waren, wie meine Tochter litt. Nichts konnte man tun, das war das Schwerste. Planen, steuern, Lösungen finden – alles blieb den Ärzten überlassen. Wir beteten und warteten: dass er zu sich kommt, dass er wieder alleine atmet, dass er uns erkennt, dass er aus seiner Welt der grauen Haie und armen Kanalratten zurückfindet zu uns. Dass er im Rollstuhl sitzen darf, dass er gehen lernt, dass er gesund wird. Wie gesund? Im Moment hoffen wir, dass sein Gedächtnis wieder besser funktioniert und dass der einst quirlige und mitteilsame junge Mann sich weniger in sich selbst zurückzieht. Später vielleicht, dass seine Knochen und Gelenke belastbarer werden. Dass er wieder arbeiten kann. Welche Arbeit? Kein Mensch weiß es.
Geräusche dringen vom Flur ins Wohnzimmer, junge Stimmen und das Rascheln von Taschen und Paketen. Die Kinder sind da. Wie immer atme ich auf, da sie heil angekommen sind. Die Panik abzustellen, wenn sie mit dem Auto unterwegs sind, fällt mir immer noch schwer. Schicksalsschläge treffen eben nicht nur die andern – es kann wieder geschehen, jeden Tag: einem anderen Kind, oder demselben noch einmal. Aber sie sind da, alle.
Nacheinander umarme ich sie und danke Gott, dass auch das verletzte Kind einen Platz im Leben behalten hat. Vielleicht einen anderen, als wir ursprünglich dachten, und wir kennen diesen Platz noch nicht. Erwartungen und Wünsche werde ich jedenfalls ablegen wie ein aus der Mode gekommenes Kleid. Ob mein aus dem vertrauten Leben geworfener Sohn auf denselben Gedanken kommt, kann ich nicht sagen.
Als Jacken und Kälte abgeschüttelt sind, zieht unsere kleine Prozession ins Weihnachtszimmer. Wir betrachten den Baum und die Meinungen darüber gehen auseinander wie immer. Alles nimmt seinen gewohnten Lauf: Kirche, Essen, Bescherung, Spielen, Beisammensein wie jedes Jahr. Gott sei Dank.
