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Das Eichhörnchen-Prinzip

Im Herbst vergraben Eichhörnchen Haselnüsse und vergessen drei Minuten später, wo. Ihr Instinkt sagt ihnen später nur, wo welche sein könnten, vergraben durch sie selbst oder andere Eichhörnchen. So kommen alle satt durch den Winter. Die Evolution bevorzugt diese Vergesslichkeit, denn nie aufgefundene Nüsse treiben im nächsten Jahr aus, wachsen zu neuen Sträuchern heran und vergrößern den Lebensraum der Eichhörnchen.

Dass sich dieses Prinzip nur bedingt auf Menschen übertragen lässt, stelle ich in einer groß angelegten Studie gerade unter Beweis. Wer zwei Haushalte zusammenschmeißen muss, hat nämlich selbst nach Abzug von Verkauftem, Verschenktem und Entsorgtem immer noch viel, was gelagert werden muss, um später wiedergefunden zu werden. Dabei kommt man den Lebensgewohnheiten der Eichhörnchen immer näher, je länger die Ein- und Aufräumarbeiten andauern: man stopft die Sachen – allen anfänglich durchdachten und strukturierten Aktivitäten zum Trotz – mit der Zeit nur noch „irgendwo hin“ und vergisst drei Minuten später, wo.

Ein Wiederfindinstinkt ist selbst nach nur einer Woche nicht festzustellen, sodass eine bittere Zeit des Suchens und Fluchens angebrochen ist. Und unser Lebensraum erweitert sich auch nicht. Im Gegenteil. Haushaltsauflösungen haben sich in der Evolution noch nicht niedergeschlagen, aber ich gehe davon aus, dass wir trotzdem gut durch den Winter kommen.

 

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Abb.: Pixabay

Selbstfindung

Grabungen in die Tiefen von Schränken und Schubladen sind wie eine Entdeckungsreise zu den eigenen Fundamenten, zu den inneren Rumpelkammern. Es findet sich Zeug, das einmal wichtig genug war, um behalten zu werden, aber nicht wichtig genug, um im Bewusstsein zu bleiben. Also rutschte es nach hinten und unten und geriet in Vergessenheit. Doch bei einem Umzug kommt alles raus, der Tag der Wahrheit berichtet von Dingen über einen weiterziehenden Menschen, die dieser oft selbst nicht weiß.

Zum Beispiel finde ich in diesen Tagen eine große Anzahl von leeren Schachteln und Täschchen. Man kann sie bestimmt einmal brauchen, denke ich immer und werfe sie deshalb nie weg. Tatsächlich brauche ich sie aber nur selten und wenn, dann ist meist doch nichts Passendes dabei. Oder es wäre etwas Passendes dabei, aber ich habe vergessen, dass ich es habe. Oder ich habe es nicht vergessen, finde es aber nicht. Jedenfalls tauchen derzeit von überall her Schachteln und Täschchen auf und ich bringe sie alle zur zentralen Sammelstelle auf dem Sofa.

Schachteln

Erst kürzlich behauptete ich bei Zoé, dass ich nichts sammle, um nicht zuviel Sachen zu haben, und nun das. Weder brauche ich all diese Behältnisse, noch weiß ich wohin damit. Trotzdem bringe ich es immer noch nicht fertig, auch nur eines davon wegzuwerfen.

Ich hielt mich einmal für einen minimalistischen Menschen, der nichts Überflüssiges braucht außer vielleicht kleinen Erinnerungen. Da fällt mir ein: Wohin mit all den Steinen und Muscheln, die ich von Urlaubsreisen mitgebracht habe? Und was ist mit den Zeichenblöcken und Farben meiner Mutter für den Fall, dass ich selbst wieder einmal malen möchte, obwohl ich seit Jahren nichts mehr angerührt habe? Je mehr ich finde, desto größer wird meine Erkenntnis: Ich kann kein minimalistischer Mensch sein. Nicht in diesen Schubladen. Wie kam ich nur darauf?

Veränderungen

Heute Nacht habe ich auf dem Sofa geschlafen. Gestern Nacht auch. Dieser Umstand liegt in direktem Zusammenhang mit der Tatsache, dass ich kein Bett mehr habe. In meinem Bett liegt jetzt ein sechzehnjähriger Junge, „90 kg schwer!“ laut Aussage der Mutter, die fröhlich plaudernd mit dem Kindsvater zusammen mein Bett abtransportierte. Ich liebe Ebay Kleinanzeigen! Vorausgesetzt, man will nicht reich werden damit, wird man alles los und ich bin froh für jedes Stück, das ich nicht mitnehmen muss. Mein Bett ist also verkauft. Unter anderem.

Ich könnte freilich in der neuen Wohnung schlafen, dort ist alles bereit – auch ein Bett. Und ein Mann, der es vorwärmt, der geliebte Brite, mit dem ich künftig mein Leben und die Wohnungskosten teile. Aber noch bin ich hier, in meiner eigenen, halb leeren Wohnung, zwischen Schachteln und Zeug. Ich will das Chaos um mich haben, ich will das Ende der heimischen Wohnkultur einläuten, ich will den Niedergang. Damit ich es glaube.

Ein bisschen ist es wie nach dem Tod meiner Mutter, als sie in der Aussegnungshalle lag. Ich ging jeden Tag zu ihr, damit sie nicht so allein ist – und damit ich es glaube. Ich brauchte diese Zeit, um mich damit auseinanderzusetzen, man stirbt nicht von einem auf den andern Tag. Und man zieht nicht in ein paar Stunden um. Deshalb muss ich in meiner Wohnung bleiben und noch ein paarmal auf dem Sofa schlafen.

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Stadtbilder

Da wo ich wohne, gleicht kein Haus dem andern. Die Straßenzüge sind gewachsen und nicht angelegt wie ein Zierteich. Sie sind wie ein uralter See, der sein Bett durch vielmaliges Überfließen und Eintrocknen so oft veränderte, bis es richtig war. Hier gibt es Fachwerk und Villen aus vergangenen Jahrhunderten, deren Eigentümer in die Stadtgeschichte eingingen. Nicht weit davon stehen Reihenhäuser und eine Mietskaserne aus der Nachkriegszeit, billig hochgezogen für die Flüchtlinge aus Schlesien oder dem Sudetenland. Ich gehe fast jeden Tag durch die Straßen und blicke an diesen Häusern hoch, auf ihre Persönlichkeiten, ihre Geschichten. Ich schaue in die Winkel und Nischen, über Mäuerchen und Einfassungen mit zaunhohen violetten Herbstastern. Unvermittelt tauchen Schuppen und überwachsene Einfahrten auf, Holzstapel und eine rote Kinderschaukel. Ich atme den Geruch der feuchten, kalten Erde aus den Gärten. Manche Menschen finden Kraft im Wald, in den Bergen oder am Meer. Ich auch. Und hier, in diesen holprigen, gewunden Straßen.

Manches möchte man in eine Tasche stecken und mitnehmen können.

 

Wandschale

 

Wohngeister

„Betreten verboten“ steht auf dem Schild an einem Bauzaun, an dem ich achtlos vorübergegangen wäre, hätte ich nicht vor ein paar Jahren dahinter gewohnt. Zwischen den Metallstäben sehe ich die Forsythienbüsche neben der Haustür, den alten Briefkasten aus Blech, das undichte Fenster im Treppenaufgang. Aber das Fenster ist nicht mehr da. Das ganze Haus ist nicht mehr da. Vor mir liegt eine lehmige Baugrube, die im Nieselregen nass und fettig glänzt. Trotzdem sehe ich die alten Wände und Mauern und sogar mich selbst, wie ich durch die Räume gehe, und die Schatten der jungen Leute, die nach mir einzogen, sehe ich auch. Was bleibt von Menschen in einem Haus? Man nimmt seine Sachen und geht, aber vielleicht gibt es Wohngeister, die über die Jahre entstanden sind und bei einem Umzug einfach auch mal bleiben wollen. Ich habe dort gern gewohnt. Und nun irren die Geister umher wie Ameisen, denen jemand den Bau eingetreten hat.

 

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(Gesehen in San Gimgnano, Toskana)

Passend zum Thema auch eine verträumte Kreation von Ulli.