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St. Martin im Wandel der Zeit

An den Absperrungen um einen kleinen Vorplatz herum stehen junge Leute mit ihren Kindern, vor ihnen reitet ein römischer Soldat im Kreis. Eine Frau mit Kopfschleier schaut ebenfalls zu, während ihr kleiner Sohn nur Augen für den blinkenden Stab hat, an dem seine Laterne hängt. Er hält ihn höher und niedriger, schwenkt ihn hin und her und marschiert dann feierlich auf und ab, die Laterne vor sich haltend wie ein Schwert.

Währenddessen setzt der Römer zum Mantelteilen an, da bricht die Stimme des Erzählers ab. Seine Lippen bewegen sich weiter, aber man hört nichts mehr. Sekundenlang passiert nichts, das Publikum wird unruhig. Nun springt der Bettler auf. Er huscht zu dem Mann, entreißt ihm das Mikrofon, fummelt etwas an der Tonanlage, „eins, zwei“ hört man, es geht wieder. Der Bettler eilt an seinen Platz zurück und kauert sich wieder auf den Boden nieder.

„Brenne auf mein Licht, brenne auf mein Licht …“ singt ein kleiner Chor. Der Bettler ist inzwischen eingekleidet, der Soldat reitet weg, die Kinder halten ihre Laternen hoch, die Eltern ihre Handys.

„… und dein heller Schein, und dein heller Schein, der soll für immer bei uns sein.“

Nur darum gehts.

 

Überflüssiges

Die letzten Tage waren übertrieben schön: Ich konnte nicht nur essen, was ich wollte, sondern auch soviel ich wollte. Ich konnte jeden Abend ein Glas Wein trinken oder zwei, ich konnte viele Stunden lang am Klapprechner hocken, jeden Tag, jede freie Minute. Das hat Spaß gemacht – aber nur weil ich wusste: Bald ist es aus damit. Fastenzeit.

In diesem Jahr will ich 40 Tage lang

1. keinen Alkohol
2. nix Süßes
3. höchstens zwei Stunden Internet am Feierabend

Kann ja nicht so schwer sein. Bei Schwächeanfällen werde ich an Menschen denken, die ganz andere Probleme haben als ich hier. Ist das der richtige Ansatz? Wird es gelingen? Sicher bin ich mir nicht, aber versuchen werde ich es. Ich will wieder wissen, was ich wirklich brauche und was nicht. Ich will ein Leben in Fülle, nicht im Überfluss.

Und ihr? Macht ihr auch eine Fastenzeit? Worauf wollt ihr verzichten?

 

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Vertrauenssache

Neulich in meinem Arbeitszimmer: Ein Computerprofi versucht, meinen PC zu reparieren, und das erweist sich als aufwendiger als gedacht. Der Mann muss den Rechner für zwei Tage mitnehmen. Hektisch suche ich in den Tiefen der Verzeichnisse nach privaten Dateien, verschiebe sie auf ein externes Laufwerk und hoffe, dass ich nichts übersehen habe. Sicher bin ich mir nicht. Mit Knoten im Magen übergebe ich schließlich das Gerät und muss am nächsten Tag gar noch mein Passwort preisgeben. Beim Kopieren meiner Daten auf die neue SSD sei das extra dafür angelegte Admin-Account verschwunden, sagt der Mann.

Als ich den Computer zurückerhalte, arbeitet er wieder wie der Blitz und alle Programme funktionieren. Ich bin aus dem Häuschen und widerstehe mit Mühe dem Drang, diesem Heilbringer um den Hals zu fallen und ihn abzuküssen. Nur beim Klicken durch die Ordner fühlt es sich merkwürdig an. Als sei jemand hiergewesen. Als wäre Dateien angegrapscht worden. Es ist, als hätte hier etwas seine Unschuld verloren.

Unser Leben befindet sich bis in die kleinsten Details auf einer drehenden Scheibe. Den Rechner herzugeben ist wie einem Fremden den Wohnungsschlüssel in die Hand zu drücken, weil er nach unserer überstürzten Abreise die Blumen gießen soll. Man hofft, dass er Tabuzonen wie Passwortlisten, persönliche Aufzeichnungen und private Bilder respektiert. Aber könnte man selbst der Versuchung widerstehen?

Reduktion

Auf alles muss man warten, und in den meisten Fällen lohnt es sich nicht einmal. Ich rede von meinem Tablet, das ich mal tunen sollte, obwohl Windows 8.1 drauf und das Ding relativ neu ist. Ich kenne mich mit Flottmach-Programmen aber nicht aus, und auf Windows 10 hochzurüsten trau ich mich auch nicht, obwohl es angeblich schneller arbeitet. Ich kenne aber jemanden mit massiven Problemen damit, also müsste ich auf vorher ein System-Backup machen. Wie geht das nochmal? Mensch, ich bin Anwender, ich will sowas nicht können müssen und die Elektronikindustrie hat komplett verpennt, dass vor dem Bildschirm normale Leute hocken und keine Nerds.

Jedenfalls ging mir bei meinem Tablet das Warten auf den Seitenaufbau und auch die oft nur angefressenen Inhalte auf die Nerven, und so bin ich seit einiger Zeit ein häufig gesehener Gast in der örtlichen Bücherei. Ich hole mir Werke wie Fotografie für Dummies, Kunst in Oberschwaben, ein Bildband über Klecksbilder. Die blätter ich dann durch und stelle fest: Man muss nicht warten. Man schlägt eine Seite auf und sie ist sofort da, ohne LAN, WLAN oder Akku, einfach so. Schon das begeistert mich jeden Abend. Aber dann fehlen auch die Links, die Verlockung, rasch etwas Relevantes zu lesen, und dann etwas Relevantes zum Relevanten und dann noch die Nachrichten und die E-Mails und der Wetterbericht, bis ich am Ende vergessen habe, was ich wissen wollte, oder es interessiert mich nicht mehr.

Bei Büchern bleibt man dabei. Nach einer Stunde weiß ich zu einem Thema mehr. Ich verbiete mir auch, fragliche Stellen im Internet zu googlen.  Manches weiß ich dann eben nicht, und das ist ungewohnt. Ich habe aber festgestellt: Es passiert nichts, wenn man etwas nicht weiß. Ich muss kein Staatsexamen ablegen, und es ist grotesk schön, nicht alles wissen zu müssen.

Wir hatten es relativ einfach. Wieso haben wir es mit Computern so kompliziert gemacht?

Digitales Leben

Vorhin stellte ich eine Flasche Mineralwasser so vor dem Monitor ab, dass sie ein wenig ins Bild ragte. Als ich dann an meiner Übersetzung weiterarbeitete, versuchte ich intuitiv, die Flasche mit der Maus zu verschieben. Einen ähnlichen Impuls hatte ich schon einmal, als ich am Grab meiner Mutter stand und wissen wollte, von wem die neu hinzugekommenen Blumen sind. Da suchten meine Finger die Maus. Den Rechtsklick. Den Link.

Muss ich mir Sorgen machen? Quatsch. Mit neuen Entwicklungen kommen eben neue Wahrnehmungen: Wir sehen andere Dinge, hören andere Geräusche, und neuerdings verwachsen unsere Finger mit der Computermaus. Geschadet hat uns der Fortschritt nicht, im Gegenteil. Wenn der Mensch immer zufrieden gewesen wäre mit dem, was er hat, dann würden wir heute noch rohes Fleisch und Beeren essen. Es dauert nur immer eine Weile, bis wir an Neues gewöhnt sind, und bis dahin sind viele misstrauisch. Aber wenn man eines Tages den Müll durch einen Delete-Button entsorgen, Fenster über ein Grafikprogramm und die Toilette mit einer App putzen kann – dann gefällt es uns wahrscheinlich doch. Ich bin also nicht computergeschädigt, sondern meiner Zeit voraus!