Das Irina-Konzept

Morgens im Büro: Ich habe Irina etwas auf den Tisch gelegt und warte, dass sie es abzeichnet, damit ich das Dokument gleich wieder mitnehmen kann.
„Hey“, sagt sie, „was bist du so hektisch? Du siehst mich gar nicht an!“ Jetzt sehe ich sie an – perplex. Sie lacht. „Ihr Deutschen … immer arbeiten, immer in Eile, aber die Kollegen sind doch auch da.
„Irina,“ ich lege den Arm um sie, drücke sie ein wenig, wir mögen uns, „ich komme hierher zum Arbeiten und nicht, um Kollegen anzuschauen!“
„Aber du musst auch die Menschen sehn. Nicht nur Arbeit.“
Dann betrachtet sie meinen funkelnden Fingerring und wir reden ein wenig über Schmuck. Ich wage nicht wegzulaufen, obwohl mein Schreibtisch voll ist. Erst als es um ihre perfekt gepflegten, korallenroten Fingernägel geht und sie auch meine lackieren will, jetzt und hier – den Nagellack hat sie offenbar in der Handtasche – mache ich mich lachend aus dem Staub.

Irina stammt aus Russland und sie klagt oft, dass ihr die Arbeit über den Kopf wächst. Trotzdem findet sie immer wieder Zeit, mit Kollegen, Dozenten und Kursteilnehmern ein Schwätzchen zu halten. Dann ruft sie gutgelaunt „Chaallo, wie warr dein Urlaub“, lacht ihr zwitscherndes Lachen und die um sie herumstehenden Leute scheinen ihre besten Freunde zu sein.

Ich glaube, diese Plaudereien sind für sie Teil ihrer Arbeit. Der Schmierstoff sozusagen. Der Respekt, das Interesse, die Wertschätzung.

Wir Deutschen machen das anders. Ich weiß jetzt grad nicht genau wie, anders eben, und vielleicht manchmal auch gar nicht, aber wir kriegen mehr geschafft.

Wer hat Recht?

20 Gedanken zu „Das Irina-Konzept

  1. Hausfrau Hanna

    Manchmal,
    liebe Anhora,
    wünschte ich mir mehr solche ‚Irinas‘!
    Wir Deutschschweizer sind ja auch derart ‚gschaffige‘ Leute.
    Etwas mehr Austausch/Kontakt und etwas weniger Fleiss wäre schön 🙂
    So.
    Ich müsste dann wohl…
    Der Staubsauger wartet! Und die Wäsche sollte auch aus der Maschine… 😉

    Nun noch ein herzlicher Gruss – und dann ist Schluss!
    Hausfrau Hanna

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    1. Anhora Autor

      Liebe Hausfrau Hanna, das Gesellige braucht man eben in Ländern, wo man ohne die Hilfe und das Wohlwollen von anderen weder arbeiten noch leben kann, also Länder mit weniger Sozialversicherungen und mehr Willkür von oben. So prägt sich eine Mentalität, selbst wenn es Krankenversicherung und Altersversorgung inzwischen gibt.
      Bei uns Deutschsprachigen war in der Vergangenheit wohl eher das abgeschiedene Leben auf einem Bauernhof prägend. Um die Ernte einzuholen, braucht man nicht viel zu reden. Im Gegenteil. 😉

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  2. MyWayArt

    Ich hatte früher auch immer Zeit für Kollegen, Mitarbeiter oder wer auch immer mir sein Leid klagen wollte, irgendwelche Ideen hatte oder einfach nur mal quatschen wollte.
    Allerdings waren die auch pünktlich zum Feierabend weg und ich saß dann noch so 2 bis 3 Stündchen….
    Ich habe mich immer gefragt wie meine Kollegen das schaffen. Ich war ja nicht langsam und hatte zwar andere Dinge zu tun, aber nicht unbedingt mehr. Vielleicht intensiver..aber das konnte es auch nicht sein.
    Bin nicht dahinter gekommen..

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    1. Anhora Autor

      Naja ein Kollege quatscht eine halbe Stunde lang mit dir und macht sich dann wieder an die Arbeit. Aber zu dir kommt wenig später der/die nächste Kollege/in und quatscht – und dann der nächste und dann die nächste!
      So macht es Irina übrigens nicht, sie ist kein Kummerkasten. Das ist einfach Small Talk, der nach 10 Minuten zu Ende ist, dann geht sie zurück an die Arbeit. Sie kriegt das gut hin.
      Ich nicht so. Wenn ich viel Arbeit habe, schau ich nicht links und nicht rechts und lass Kollegen auch mal neben mir Monologe führen, während ich weiterarbeite… 😉

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      1. MyWayArt

        Auch gut. Aber mein Problem ist, dass ich das nicht kann. Ich bewundere alle die sich voll auf ihre Arbeit konzentrieren können. Wenn ich arbeite, höre ich trotzdem noch was gerade in den anderen Büros passiert.
        Ich weiss noch als ich mal in einem Großraumbüro arbeiten musste, saß ich meinem Mitarbeiter direkt gegenüber. Er redete mit mir, ich schrieb während dessen eine Email und beantwortete noch Fragen die irgendwo am Ende des Büros gestellt wurden. Das ist auf Dauer echt anstrengend. Ich habe dann immer da gesessen und gedacht: Fokus Alte, Fokus.!!!

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        1. Anhora Autor

          Du hast wohl eine ausgeprägte Multitasking-Begabung! Solche KollegInnen mag man, weil sie immer ein offenes Ohr haben und meist gut über die Vorgänge im Büro Bescheid wissen. 🙂
          Mein Problem ist andersrum. Wenn ich mich auf etwas konzentriere, merke ich noch nicht mal, was neben meinem Schreibtisch passiert und quatschende Kollegen verscheuche ich nach ein paar Minuten durch knappe Mhms. Zur Not sag ichs auch, dass ich jetzt weiterarbeiten muss. Das wird mir vielleicht manchmal als Desinteresse ausgelegt, was in den entsprechenden Situationen ja auch stimmt.
          Deine Arbeitsweise stell ich mir anstrengender vor als meine, dafür bist du wahrscheinlich die Sozialere von uns beiden. 🙂

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          1. MyWayArt

            Das ist echt witzig, denn solch ein Verhalten legen meistens Männer an den Tag..weil sie eben nicht Multitasking sind. Ich hatte mal einen Freund der nichts mehr gehört hat, wenn er sich auf irgendwas konzentriert. Das konnte die Bude zusammenbrechen und er hätte es nicht mitbekommen ;o)

            Und ja, ich bin schon sehr in Sachen Multitasking versorgt worden.
            Ich kann auch Autofahren, mich dabei schminken, Die Haare stylen und über die Freisprechanlage mit jemanden telefonieren..z.B.
            Aber so nett wie das ist, es hat halt auch die Nachteile, dass Du eben alles mitbekommst.
            Mein Mann musste sich auch erst daran gewöhnen, dass ich mich mit ihm unterhalten kann und trotzdem noch die Meldungen im Radio…der ganz leise ist…höre.
            Da er es nicht kann, war er anfangs der Meinung ich würde ihm nie zuhören ;o)

            Ja..ich bin schon sehr sozial. Kam aber auch mit dem Job. Meiner Erfahrung nach, kannst Du nur erfolgreich sein wenn Du Deine Mannschaft auch anständig führst und immer ein Ohr für ihre Belange hast…und ggf. vielleicht eine Lösung oder einen Rat. Denn Unzufriedenheit wächst wenn Du niemanden hast der Dir zuhört.
            Und dadurch, dass Du ihnen zuhörst, entsteht Vertrauen. Und das kommt Dir zugute, wenn Du mal etwas aus der Reihe von ihnen verlangst.
            …und das kam bei mir öfters vor ;o)

            Und by the way,…ich hatte nie Frauen in meinem Team…nur Männer. Und ich kann Dir sagen, dass das nicht immer einfach war. Denn wer glaubt dass Männer nicht jammern oder sich mit Mist beschäftigen oder Stunden über unwichtiges Zeug diskutieren können, der hat noch nie mit Männern gearbeitet.
            Auch in Männern steckt eine kleine Dramaqueen ;o)

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            1. Anhora Autor

              Musste grad lachen, also du deine Multitaskingfähigkeit im Gespräch mit deinem Mann beschrieben hast. Also ich kann tatsächlich auch 1000 Dinge erledigen, während ich meinem Partner zuhöre, und ich hör tatächlich was er sagt! Aber er glaubts mir auch nicht. 😉
              Beim Arbeiten ist es anders. Ich mache zwar auch mal mehrere Sachen gleichzeitig, aber selten oder nie mit einem guten Resultat, und anstrengend ist es auch. Also konzentrier ich mich auf eins, und die Welt um mich herum versinkt. 🙂
              So gut wie du bin ich sicher nicht beim Multitasking, und sicher auch nicht ganz so sozial. Ich hör nur den Leuten zu, die mich interessieren. Das sind ehrlich gesagt nicht so viele …
              Die andern versuch ich bald wieder loszuwerden, weil mir die Zeit zu schade ist.
              Mit Männern hab ich auch schon oft die Erfahrung gemacht, dass sie bei weitem die größeren Labertaschen sind als Frauen! Aber da kann man einfach weglaufen, die nehmen das nicht krumm. Ich arbeite gerne mit Männern. 🙂

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            2. MyWayArt

              Zu diesem Thema fällt mir was Witziges ein.
              Ich wohne ja in einem ehemaligen Gasthof und unter meiner Wohnung befindet sich ein Café.
              Letztes WE saß ich wie immer auf meiner Fensterbank und rauchte. Dann kam die Tochter der Inhaber raus und machte sich fluchend eine Zigarette an. Ich fragte sie was los sei und sie meinte: Mein Vater geht mir so auf die Nerven. Sobald er etwas macht hört er nichts mehr. Ich steh in der Küche neben ihm und rede mit ihm und er rührt Teig. Und was kommt…nix!
              Ich musste so lachen.

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    1. Anhora Autor

      Ich fürchte ich gehöre zu diesen Deutschen! Wenn ich viel zu tun habe, kann ich einfach keine Schwätzchen halten und wirke dann wahrscheinlich manchmal desinteressiert an den Kollegen. Aber ich bin ja nicht immer im Stress. Und ich habe Irina, die mich immer mal wieder zurechtrückt. 😉

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  3. sylviawaldfrau

    Ich hatte ja auch lange eine russischstämmige Kollegin. Sie hat aber trotz sehr persönlichem Schwätzchen enorm viel weggeschafft, sogar mehr als ich. Ich glaube das ist keine kulturelle Eigenschaft beides unter einen Hut zu bekommen, eher eine persönliche Fähigkeit.

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    1. Anhora Autor

      „Unsere“ Irina arbeitet schon auch sehr viel, und vor allem präzise und zuverlässig. Ich arbeite sehr gern mit ihr zusammen, weil da alles klappt. Trotzdem nimmt sie sich eben noch Zeit für die Schwätchen. Natürlich auch um zu jammern, wie überlastet sie ist. 😉

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  4. Mallybeau Mauswohn

    Liebe Anhora!
    Des kann i mir bildlich vorschdella, wie Du die aguggsch. 🙂 S isch halt oifach a andre Mendalidäd ond für ons Schwoba isch sowas sowieso schwär zom vrschtanda, mir schaffet halt gern, au wenns amol viel isch ond hent jo trotzdem onsrn Schbass. Abr so a Irina em Geschäft machts Schaffa ja au gemütlich 🙂
    Liebs Sonndagsgrüßle
    Mallybeau

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    1. Anhora Autor

      Unser Schbass isch halt, dass d’Arbeit fertig und alles gut worra isch. Aber so a Irina schdellt jedefalls sicher, dass mr net verbohrt wird. I mag mein Job.
      Äbafalls liebe Grüßle auf d’Alm! 🙂

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