Bekannt- und Fremdwerden

Um in das Zimmer meine Mutter zu kommen, muss ich den Aufenthaltsraum durchqueren. Heute riecht es nicht nach Mittagessen wie sonst, sondern nach Kaffee. Ein rüstiger Mann hockt auf einem der Sofas. Sein Blick folgt mir, als ich ihn grüße und er ruft: „Helfen Sie mir beim Aufstehen, ich muss gehen. Man lässt mich nur nicht.“ Das sagt er jedes Mal. „Ich schicke Ihnen einen Pfleger“, antworte ich wie immer. Am Fenster blättert eine Frau mit einer spastischen Lähmung mit spitzen Fingern in einer Zeitschrift. Ich sehe sie gelegentlich vor der Tür beim Rauchen.

Ganz hinten sitzt an einem der Tische eine andere Frau, klein und schmächtig. Sie schaut in den Raum, ohne ihn wahrzunehmen, als denke sie über etwas nach. Ich betrachte sie aus dem Augenwinkel und frage mich, was der heutige Tag ihr bedeutet. Ob sie traurig ist oder nur wartet. Ob Eindrücke in ihr Bewusstsein dringen oder abfließen wie Seewellen, die gegen eine Klippe schlagen.

Ich bin schon fast an ihr vorbei und wende mich noch einmal um, da sehe ich erst: Es ist meine Mutter. Sonst liegt sie bei meinen Besuchen im Bett zur Mittagsruhe, aber heute bin ich später dran. Man hat sie in den Rollstuhl gesetzt, unter die Leute gebracht, und ich hätte sie fast nicht erkannt. Bestürzt setze ich mich zu ihr, lege kurz den Arm um ihre mager gewordenen Schultern. Sie lächelt, und das kommt mir wieder bekannt vor.

 

23 Gedanken zu „Bekannt- und Fremdwerden

  1. kaetheknobloch

    Ich las so lange nicht bei Ihnen, quere nun die Einträge und bei dem, wo mir am ärgsten die Sprache fehlt, da will ich unbedingt etwas hinterlegen. Einen Gruß, eine stille Kraftschenksilbe, ach, irgendwas.
    Dieser Erkenntnismoment muß sehr verstörend sein, doch genau das macht uns Menschenkinder wohl so verletzlich.
    Alles Gute Ihnen, Ihre Frau Knobloch.

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    1. Anhora Autor

      Liebe Frau Knobloch, ich freue mich über und danke für Ihren Zwischenstopp und Ihren einfühlenden Kommentar. Verstörend ist das richtige Wort. Man gewöhnt sich ja an alles, früher oder später. In diesem Fall später. Ihnen noch einen schönen Tag.

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  2. schreibschaukel

    Beim Lesen werden Erinnerungen wach…wie oft habe ich solch Szenen selbst erlebt, während Jahren. Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen, wieder mal einen Besuch im Pflegeheim zu machen, weil es da so viele Menschen gibt, die keinen mehr bekommen. Ich hab’s nicht getan, irgendwie nicht geschafft. Und zu meiner Beschämung muss ich gestehen, dass sich noch heute, eineinhalb Jahre später, jeweils ein Gefühl der Erleichterung einstellt, wenn ich den Kreisel in der Nähe des Pflegeheims verlasse. In die andere Richtung.
    Aber ja, man schafft alles, wenn es sein muss. Aber es prägt einen, zweifellos.

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    1. Anhora Autor

      Nach dieser Situation sehne ich mich jetzt schon: An einer bestimmten Ampelkreuzung nicht mehr abbiegen zu müssen. Auf manche Erfahrungen und Prägungen könnte man gut verzichten, es hängt ja wirklich mehr damit zusammen als der Zeitaufwand. Danke für deine Gedanken dazu.

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  3. Mme Lila

    Ich spüre, dass die Situation für dich nicht einfach ist. Weisst du selbst. Den Text hier hast du sehr berührend geschrieben, die Beobachtungen, die Atmosphäre.
    Kennst du den Blog ‚Demenz für Anfänger‘ ? Sie beschreibt das Loslassen…Hat mich an dich erinnert.

    Liebe Grüsse,

    Lila

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    1. Anhora Autor

      Danke für dein Mitfühlen, Lila. Allerdings ist meine Mutter nicht dement. Sie kann nur seit ein paar Monaten gar nicht mehr sprechen und wirkt immer teilnahmsloser. Ich weiß nicht mehr, was in ihr vorgeht. Vielleicht ist sie tatsächlich dement geworden, aber ich spüre das irgendwie nicht. Den Blog schaue ich mir trotzdem an, danke für den Hinweis.

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    2. Mme Lila

      Hey 😊…

      Es ist das Thema loslassen. Aus diesem Grund kam ich auf den Vergleich mit dem anderen Blog. Zu einer etwaigen Demenz deiner Mutter kann ich mich nicht äußern. Ich kenne sie ja nicht.

      LG

      Lila😊

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  4. Anhora Autor

    Dass man sich in der letzten Phase noch einmal so verändert, hatte ich nicht erwartet. Man muss es annehmen und geschehen lassen. Für mich ist das aber verstörend.

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    1. Anhora Autor

      Man hält nicht für möglich, was man alles kann, wenn man muss. Man kann eigentlich alles. Was es mit einem macht, steht auf einem anderen Blatt.

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        1. Anhora Autor

          Eins prägt mich aber doch, fällt mir grad ein. In den letzten Monaten bin ich sehr dankbar geworden, dass ich sprechen, gehen, lachen und selbstbestimmt leben kann. Das wird wahrscheinlich bleiben, du hast also Recht. Manches andere dagegen möchte ich schnell vergessen.

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    1. Anhora Autor

      Es ist tatsächlich eine schwierige Zeit. Vielleicht auch, weil man das Abschiednehmen so ausklammert in unserer Gesellschaft. Man ist nicht vorbereitet auf das, was da kommt, weder Betroffene noch Angehörige. Ich fühl mich ziemlich alleingelassen damit.

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