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Beleuchtete Grüße nach irgendwo

Im Urlaub besuchten wir das Kloster Santa María de la Rábida in der Nähe von Huelva, Spanien. Hier hat sich Kolumbus aufgehalten, bevor er auf die große Reise ging. Wir betraten auch die kleine Klosterkapelle und ich zündete drei Kerzen an: Eine für meine Mutter, eine für Schwiegermutter Nr. 1 und eine für Schwiegermutter Nr. 2. Dazu musste ich aber keine Kerze in die Hand nehmen: Ich warf nur drei Münzen ein und nacheinander begannen drei Kerzen automatisch zu leuchten. LEDs. Keine Sauerei, sichere Bezahlung, wiederverwendbar. Da sag noch einer, die Kirche geht nicht mit der Zeit. Es sind die drei Kerzen links in der zweiten Reihe von unten.

Fällt mir grad so ein, zum Muttertag.

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Besuch bei der alten Dame

Neulich in Liverpool bei der Mom des geliebten Briten: Wir wissen nicht mehr, was wir mit ihr reden sollen, sie kann keine einzige Frage beantworten. Nicht einmal, was es vor einer halben Stunde zum Lunch gegeben hat. Immer wieder schaut sie sich um und fragt, was sie hier wollte. „Am I right here?“

Der Brite bemüht sich weiter um seine Mutter, ich steige irgendwann aus. Mein Blick wandert durch die Visitor Lounge. Ein paar leere Sessel stehen herum, es sind keine weiteren Besucher anwesend. Vom Fenster her dringt kühle Luft herein, draußen fährt eine Ambulanz vor. Neben der Tür befindet sich eine verglaste Wand, durch die man in den angrenzenden Raum bicken kann. Dort sitzen sechs oder sieben BewohnerInnen dieser Pflegeeinrichtung an einem Tisch und essen. Eine von ihnen – die einzige Afro-Britin – weckt Erinnerungen in mir. Noch vor einem Jahr saß meine Mutter genauso da: schweigend, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Als denke sie über etwas nach.

Die Tochter hilft der Frau beim Essen. Dann steht sie auf und macht ihr die Haare: löst Zöpfchen, kämmt das grauschwarze Gekrissel, nimmt sich mit kleinen Seitwärtsschritten den ganzen Kopf vor und flicht die Zöpfe neu. Als alles fertig ist, sieht die Mutter aus wie eine altehrwürdige Fürstin aus der Antike. Sie spricht während der ganzen Zeit kein Wort. Ein wenig schief sitzt sie im Rollstuhl und lässt sich nun von der Tochter aus dem Raum hinausschieben, blicklos, als sei ihr Geist schon ein Stück vorausgegangen.

Heute jährt sich der Todestag meiner Mutter zum ersten Mal.

Liverpool

 

Eine Botschaft?

Als meine Mutter ihre Hände noch benutzen konnte, malte sie nicht nur Bilder, sondern sie schuf auch kleine Tonskulpturen. Ein von ihr gefertigter Engel zum Beispiel stand jahrelang in ihrem Schlafzimmer. Er gefiel mir nie und anderen wohl auch nicht, denn als sie gestorben war, wollte ihn niemand haben. Ihn wegzuwerfen, brachte ich aber auch nicht übers Herz, und so stellte ich ihn vorerst zu Hause auf. Vielleicht würde ihn eines Tages jemand mitnehmen, dachte ich, wer auch immer. Oder ich würde die Erlaubnis zum Entsorgen bekommen, von wem auch immer.

Kürzlich schlappt nun der geliebte Brite in mein Zimmer, kommt wegen irgendetwas ins Stolpern, sucht Halt, erwischt den Engel und stößt ihn vom Tischchen. Als ich von der Arbeit nach Hause komme, träufelt er gerade Porzellankleber auf die Bruchstelle und drückt den Kopf wieder auf. Der Engel wird an seinen Platz zurückgestellt.

Zwei Stunden später betrete ich das Zimmer, bewege mich ungeschickt mit dem Staubsauger, der Schlauch streift den Engel und er stürzt ein zweites Mal an diesem Tag (genauer gesagt in seinem Dasein) zu Boden. Der Kopf ist wieder ab und die Trompete auch.

Er wird ein zweites Mal repariert, aber wenn ich so darüber nachdenke:
Was meint ihr? Ist das eine Botschaft meiner Mutter, dass ich den Engel in den Müll geben kann? Gefiel er ihr auch nicht?

Platz frei

Gestern habe ich

– zum letzten Mal vor der Hochschule geparkt
– zum letzten Mal in einem Büro darin den Computer hochgefahren
– zum letzten Mal dort eine Tasse Kaffee getrunken
– zum letzten Mal mit den Kollegen gequatscht und herumgealbert
– zum letzten Mal den Computer ausgeschalten
– zum ersten Mal geheult, als ich die Ausgangstür aufdrückte und das Gebäude verließ.

Danach ging ich zum Friedhof. Die Pflanzen auf dem Grab meiner Mutter blühen immer noch üppig und ich zog – nach fast drei Monaten – die Trauerbänder aus den Schalen. Die Sonne ließ die Umrisse der Bäume, die weiter vorne am Weg entlang eine Arkade formen, zu einem Lichtkranz aufleuchten. Darunter blieb es trüb, und aus dieser Düsternis heraus tauchte ein Mann auf. Er trug einen schwarzen Mantel und hielt mit starrer Geste ein Holzkreuz in die Höhe. Mehrere dunkel gekleidete Menschen folgten ihm, der kleine Zug kam mir langsam entgegen. Mich schauderte, ein scharfer Wind blies mir die Haare aus dem Gesicht, die Sonne wärmt nicht mehr. Ich zupfte noch ein paar trockene Blättchen ab und machte mich auf den den Heimweg.

Meertau hat kürzlich in einem Kommentar etwas Mutmachendes geschrieben: „Ich bin nicht mehr die, die ich mal war. Wer ich mal werde, weiß ich noch nicht. Aber der Platz für mich ist schon frei.“

 

Wolken (2)

Abb. © SylviaWaldfrau Weiterlesen

Trauer feiern

Die Damen der Reisegruppe, zu der ursprünglich auch ich gehören sollte, zündeten in der St.-Pauls Cathedral in London Kerzen an für meine Mutter. Meine Tochter brachte Blumen in eine Kapelle auf der griechischen Insel Samos, während in Deutschland zu diesem Zeitpunkt ihre Oma beerdigt wurde. Wir streuten Blütenblätter in ihr Grab und es hat mich beschäftigt, wie unterschiedlich die Menschen Anteil und Abschied nehmen. In manch einen Kopf würde man gerne hineinsehen.

Immer wieder denke ich über meine Mutter nach, unsere Geschichte war gewiss keine ungetrübte. Deshalb ist es so unbegreiflich, dass jetzt, nach ihrem Tod, jeder Zwist aus alten Zeiten zerplatzte wie eine Seifenblase. Als sie in ihrem kühlen Bett lag, war ein Schloss aufgesprungen und es gab den Schlussstrich unter Vergangenes frei, die Erlösung von Zweifeln, und soviel Liebe. Die Tage nach dem Tod meiner Mutter werde ich nie vergessen. Sie haben gut gemacht, was nicht gut war zwischen uns. Unfassbar, dass das geht.

Melancholie© Ursula Holly

 

Frühsommertag

Als ich das Zimmer meiner Mutter betrete, schlägt mir dicker Mief entgegen. Sie friert jetzt häufig und die PflegerInnen wollen sicher verhindern, dass es ihr zu kühl wird. Ich weiß das. Ich weiß aber auch, dass sie bis zum letzten Tag, an dem sie selbst Entscheidungen traf, auf durchgelüftete Räume Wert legte. Ihr Leben lang riss sie mehrmals täglich Fenster und Türen auf und ließ es in der Wohnung durchziehen. Niemals hat es anders gerochen als nach frischer Luft.

Ich öffne das Fenster einen Spalt und trete an ihr Bett. Es ist früher Nachmittag und man hat ihr geholfen, sich zum Ausruhen ein wenig hinzulegen.
„Wie geht es dir heute?“ frage ich.
„Gut.“ Das Aussprechen des Worts gelingt nur mühsam, doch ihr Gesicht verzieht sich dabei zu einem Lächeln. Einen Moment lang ist es, als wäre die Zeit ein paar Jahre zurückgesprungen und ich wäre gerade mit ihren Einkäufen gekommen, hätte eine Begonie von Netto auf den Wohnzimmertisch gestellt, durch die offene Balkontür wäre duftende Frühsommerluft hereingeweht und ich hätte gefragt:
„Na, alles klar? Wie geht es dir?“
„Gut,“ hatte sie fast immer geantwortet und unter Anstrengung ein „alles klar“ hinterhergesetzt. Auf ihr Gesicht legte sich dann ein unbeschreibliches Strahlen, das mir vor ihrem Schlaganfall nie aufgefallen war und das sie auch im hohen Alter noch zu einer hinreißend schönen Frau werden ließ.

Ich blicke auf meine Mutter nieder, die überall Schmerzen hat, der die Fähigkeit zu sprechen fast ganz abhanden gekommen ist und die in einem stickigen Zimmer liegt. Aber wenn man sie fragt, wie es ihr geht, dann antwortet sie „Gut“ auf eine Art, die man als ernst gemeint interpretieren kann. Neben einer gelüfteten Wohnung hatte sie immer schon Klarheit darüber, wogegen es sich aufzulehnen lohnt und was einfach hinzunehmen ist. „Da muss man nicht jammern,“ höre ich sie stimmlos sagen, „das ändert auch nichts.“

So ist das Leben

Ich sitze bei meiner Mutter im Aufenthaltsraum, der Duft nach Kartoffelbrei und Bratensoße wabert in unsere Nasen, bald gibt es Essen. Sechs Bewohner und Bewohnerinnen haben an dem Tisch Platz genommen, an dem wir sitzen, Rollatoren parken an der Wand. An einem weiter entfernt stehenden Tisch beugt sich ein ausgemergelter kleiner Mann über einen Trinkbecher, in dem ein Strohhalm steckt. Der Mann ist allein am Tisch, niemand wurde zu ihm gesetzt und jeder weiß, warum.

Vor einigen Wochen, als ich meine Mutter ebenfalls in der Mittagszeit besucht hatte, war dieser Mann an ihren Tisch geschoben worden. Kaum hatte sich der Pfleger entfernt, begann der Mann geräuschvoll und ohne vorgehaltene Hand zu husten. Er hustete immer stärker, quer über den Tisch. Er hustete, als ob sein Leben davon abhinge, die höchstmögliche Lautstärke zu produzieren und es schien, als ob in seiner Brust nichts zu finden sei, das diesen Husten rechtfertigen könnte und er ihn deshalb gewaltsam herauspresste, sodass seine Augen hervortraten und das Gesicht rot anlief, wir hatten alle Angst, dass gleich ein Lungenflügel mit herausschießen und neben den Blumendekorationen oder gar auf einem der Teller landen würde.

Angesichts dieses Spektakels kam das Plaudern am Tisch zum Erliegen. Nur eine kurzatmige Frau murmelte vernehmlich zu ihrer Sitznachbarin: „Wer ist das? Der sitzt doch sonst nicht bei uns?“ Da hörte der Mann plötzlich auf zu husten und schnappte nach Luft, als hätte der Sinn des Ganzen einzig und allein darin bestanden, die Wahrnehmung der anderen auf sich zu lenken, auf welche Art auch immer. Alle richteten verstohlene Blicke auf ihn, doch dann entlud sich eine neue Welle dieses fürchterlichen Hustens. Die Frau sah ihn jetzt ärgerlich an und sagte: „Hören Sie doch auf, es wird einem ja schlecht.“

Seither gehört der Husten des neuen Bewohners zum Hintergrundgeräusch hier. Inzwischen wird das Essen verteilt, der Servierwagen bewegt sich zwischen den Tischen, ich verabschiede mich. Als ich an der Verbindungstür angekommen bin, wende ich mich noch einmal um zu meiner Mutter. Sie sitzt aufrecht da und schaut mir mit einem konzentrierten Blick hinterher, als wolle sie sagen: „So ist das Leben. Man kann sich nicht alles aussuchen.“

Ich muss lächeln und winke ihr noch einmal zum Abschied. Im Augenwinkel sehe ich den Mann, der wieder zu husten beginnt. Ein Mädchen hat sich inzwischen zu ihm gesetzt und hilft ihm beim Essen.

Bekannt- und Fremdwerden

Um in das Zimmer meine Mutter zu kommen, muss ich den Aufenthaltsraum durchqueren. Heute riecht es nicht nach Mittagessen wie sonst, sondern nach Kaffee. Ein rüstiger Mann hockt auf einem der Sofas. Sein Blick folgt mir, als ich ihn grüße und er ruft: „Helfen Sie mir beim Aufstehen, ich muss gehen. Man lässt mich nur nicht.“ Das sagt er jedes Mal. „Ich schicke Ihnen einen Pfleger“, antworte ich wie immer. Am Fenster blättert eine Frau mit einer spastischen Lähmung mit spitzen Fingern in einer Zeitschrift. Ich sehe sie gelegentlich vor der Tür beim Rauchen.

Ganz hinten sitzt an einem der Tische eine andere Frau, klein und schmächtig. Sie schaut in den Raum, ohne ihn wahrzunehmen, als denke sie über etwas nach. Ich betrachte sie aus dem Augenwinkel und frage mich, was der heutige Tag ihr bedeutet. Ob sie traurig ist oder nur wartet. Ob Eindrücke in ihr Bewusstsein dringen oder abfließen wie Seewellen, die gegen eine Klippe schlagen.

Ich bin schon fast an ihr vorbei und wende mich noch einmal um, da sehe ich erst: Es ist meine Mutter. Sonst liegt sie bei meinen Besuchen im Bett zur Mittagsruhe, aber heute bin ich später dran. Man hat sie in den Rollstuhl gesetzt, unter die Leute gebracht, und ich hätte sie fast nicht erkannt. Bestürzt setze ich mich zu ihr, lege kurz den Arm um ihre mager gewordenen Schultern. Sie lächelt, und das kommt mir wieder bekannt vor.

 

Angenehme Zusammenarbeit

Ich trete ins Zimmer meiner Mutter, weil es in der Verwaltung ein paar Dinge zu besprechen gibt, wo sie dabei sein sollte. Deshalb sind eine Pflegerin und ein Pfleger mit mir gekommen. Zu zweit heben sie meine Mutter aus dem Bett und setzen sie behutsam in den Rollstuhl, dann verschwindet das Mädchen wieder. Der Pfleger holt eine Haarbürste aus dem Bad und ordnet ihre Frisur, stellt sich vor sie hin und prüft ihren Anblick wie Guido Maria Kretschmer das Outfit einer Shopping Queen.

Als er zufrieden ist, legt er die Bürste weg, beugt sich zu meiner Mutter hinunter und hält seinen zur Seite gedrehten Kopf nah an ihr Gesicht, als solle sie ihm etwas ins Ohr flüstern.

„Na?“ fragt er und verharrt in der Stellung.

Ein paar Augenblicke passiert nichts, dann ruckt sie plötzlich mit dem Gesicht ein wenig nach vorne und drückt dem Pfleger einen Kuss auf die Backe. Einen Sekundenbruchteil lang gehe ich im Geist Kategorien durch wie Veralberung, Respektlosigkeit, Show usw., finde aber nichts Passendes und ordne das kleine Ereignis dort ein, wo es wahrscheinlich richtig ist: Jemand will einer Frau, der nicht mehr viel geblieben ist, das Einerlei ihres Alltags versüßen. Die machen das offenbar öfters.

Der junge Mann grinst jetzt und richtet sich wieder auf, meine Mutter schmunzelt ein wenig, und ich lache laut auf. Wer weiß, wie gekonnt meine Mutter früher die Männer schalu gemacht hat, der kann schwer glauben, dass sie hier etwas gegen ihren Willen tut.

Also ich hab mir gedacht: Wenn ich einmal alt bin – möchte ich auch in diese Pflegeeinrichtung. Und dann küss ich alle Pfleger. Yeah.

Spurenfinden

Unter den Sachen, die ich von meiner Mutter mitgenommen habe, finde ich auch Briefe. Ihr Vater schrieb sie vor über siebzig Jahren an seine Frau – meine Großmutter – und gelegentlich an sein Töchterchen, meine Mutter. Auch Fotos sind dabei, auf denen ein attraktiver, lebenslustiger Mann posiert, den ich sicher gern gehabt hätte. Schade, dass ich ihn nie kennengelernt habe. Der letzte Brief kam 1946 aus einer Lungenheilstätte, wenige Wochen vor seinem Tod.

Damit diese Briefe auch von meinen Geschwistern und Kindern gelesen werden können und das mürb gewordene Papier nicht darunter leidet, beschließe ich, sie zu digitalisieren. Einen nach dem andern ziehe ich aus dem Umschlag und lege die vergilbten Bögen vorsichtig in den Scanner. Was mein Großvater wohl denken würde, wenn er mich dabei sehen könnte? Er wäre vielleicht überrascht, dass die Briefe so lange überdauert haben. Dass seine Enkelin sie aber in einen sirrenden Kasten legt und die Schriftzeilen danach ohne weiteres Zutun in einem großen Bilderrahmen auf dem Schreibtisch erscheinen – das hätte er wahrscheinlich nicht einordnen können. Er wäre wohl davon ausgegangen, dass die Menschen Zaubern gelernt haben.

Mir ist, als stünde mein Großvater jetzt im Raum und schaute mir über die Schulter zu. Es fühlt sich leicht und selbstverständlich an. Ich stelle mir vor, wie ich ihm den Scanner so gut wie möglich erkläre und dass es nichts mit Hexerei zu tun hat, was ich da mache. Er steht die ganze Zeit hinter mir wie in einer dieser Science-Fiction-Komödien und schüttelt ratlos grinsend den Kopf.

So bin ich ihm – irgendwie – doch noch begegnet.

 

Ferdi5n

Die Wahrheit hängt an der Wand

Immer wenn ich vom Pflegeheim nach Hause komme, betrachte ich ein Foto meiner Mutter, als sie noch ein Mensch war. Das Bild lag zwischen ihren Unterlagen, die ich durchzusehen hatte, zusammen mit einem Geburtstagsgedicht von einer Freundin. Sie haben zusammen gefeiert damals, 2006 war das. Ich hielt die beiden Fundstücke eine Weile in den Fingern und tat dann etwas, was ich mit einem Bild meiner Mutter noch nie getan habe: Ich rahmte es ein und hängte es auf. Jetzt lacht sie knapp an der Kamera vorbei ins Zimmer hinein, das Gesicht noch füllig, ihr Haar schwarz und voll. Am rechten unteren Bildrand sieht man gerade noch ihre schönen Hände. Ich will sehen, dass das meine Mutter ist. Irgendwo unter der veränderten Hülle gibt es sie noch: die attraktive, lebendige Frau mit Freundinnen und Hobbys. In ihren Augen sehe ich es manchmal noch nachleuchten.

Schicksal

Wenn man eine Wohnung auflösen muss, findet man viele Habseligkeiten, die eine Entscheidung notwendig machen. Behalten? Fortwerfen? Ebay 3-2-1 deins? Eine halbe Socke zum Beispiel. Was tut man damit? Das erste Bündchen ist gestrickt, dann wurden die Finger meiner Mutter zu kraftlos. Oder sie verlor am letzten Zeitvertreib, den sie noch pflegen konnte, einfach die Lust.

Ich hätte diese Wolle nicht ausgesucht: mehrfarbig in Rot und Braun, vielleicht hat eine Freundin sie ihr mitgebracht. Ich gebe die halbe Socke trotzdem nicht in den Müll, sondern stecke sie gedankenverloren in einen Korb mit anderem Kram. Zu Hause liegt sie dann eine Weile herum, weil ich noch unschlüssig bin, was ihr Schicksal betrifft. Eines Abends aber setze ich mich hin und stricke sie weiter.

Das Muster sieht nicht mal schlecht aus, nur die Ferse kriege ich wieder nicht richtig hin. Meine Mutter beherrschte es perfekt, sie hätte mir mal zeigen sollen, wie das geht. Strickanleitungen aus Magazinen kapiere ich nämlich nicht. Ich hätte auch fragen können. Aber man meint ja immer, das hat Zeit.

Wenn die Socken fertig sind, bringe ich sie ihr ins Pflegeheim.

 

Socke (l)

 

Neuland im Ernährungsbereich

Bald bin ich durch mit den Nudelsnacks. Fünf Packungen Satori Instantnudeln Hühnerfleischgeschmack & Pilze kamen überraschend zu meinem Hausstand hinzu und sie schmecken nicht mal schlecht. Gebratene Nicecook Fertignudeln Kimchi und Garnelengeschmack kann ich ebenfalls empfehlen. Man muss nur allein sein beim Verzehr, denn weder mit der Gabel noch mit dem Löffel noch gar mit Essstäbchen ist es möglich, diese Speise so zum Mund zu führen, dass jemand dabei zusehen dürfte. Wahrscheinlich sind es nur drei Nudeln, aber jede sechzehn Meter lang. Ich schlabbere sie deshalb ausschließlich in unbeobachteten Momenten.

Meine Mutter liebt sie, seit Jahren muss ich ihr diese Nudeln von Netto mitbringen. Vielleicht auch nur, weil sie einfach zuzubereiten sind, man gießt kochendes Wasser drüber und fertig. Da meine Mutter nun aber die Haute cuisine der Pflegestation genießt, gingen im Zug der Haushaltsauflösung die noch vorrätigen Nudelsnacks in meinen Besitz über. Als Eingeborene aus dem Süden Deutschlands werfe ich natürlich nix weg und habe nach und nach aufgegessen, was mir sonst niemals auf den Teller bzw. in den Plastikbecher kommen würde. Lecker Pentasodiumtriphosphate zum Beispiel, Natriumcarbonat, Butylhydroxytoluol, Natriumglutamat, sowas eben. Erstaunlicherweise krieg ich davon weniger Bauchweh als manchmal von normalem Essen. Chemie scheint leicht verdaulich zu sein. Vielleicht kriegt man im Pflegeheim dasselbe.

 

Nudelsnack (2)

Ein Leben im Wohnzimmerschrank

Ich muss jetzt in fremden Sachen wühlen. Sortieren, was mir nicht gehört. Überlegen, was meine Mutter noch braucht in der Pflegestation. Die Wohnung muss so schnell wie möglich geleert werden, denn die Miete ist hoch, der monatliche Pflegesatz noch höher.

Ich finde Schreiben und Dokumente, die mich nichts angehen. Mappen mit der Aufschrift „Privat“. Verschlossene Umschläge. Ein rotes, schnörkelig verziertes Schnapsglas mit Goldrand, das ich noch aus meiner Kindheit kenne. Sie hat ihren Gästen Slibowitz darin eingeschenkt oder Ouzo, oder Jim Bimm, wenn sie an den Wochenenden Party machte. An die Namen dieser Getränke erinnere ich mich gut.

Zwischen Papierstapeln liegt ein Seidenbild. Es stammt aus den Anfängen ihrer Zeit als Hobbykünstlerin, bevor sie Aquarell, Öl und Acryl entdeckte. Sie belegte hunderttausend Kurse und es gibt eine schier endlose Zahl an Werken, die daraus hervorgingen. Gemälde in Pink, Gelb und Blau, aber auch zarte Blumenbilder in unterschiedlichsten Farben und Techniken hängen bis heute an der Wand. Der Rest lagert im Keller. Den muss ich auch noch ausräumen.

Eine um die andere Schachtel oder Blechdose ziehe ich aus den Fächern, ordentlich verstaute Utensilien, Unterlagen, Schnickschnack. Jedes Ding hat seinen Platz. Genauso sieht es in meinen Schränken und Schubladen aus.

Was für eine traurige Einstimmung auf das Weihnachtsfest ist das in diesem Jahr.

Kinder erstellen

Kinder machen in der Generation Facebook:

Gebärmutter anklicken,
Baby downloaden.

Auch das wird noch erfunden werden, doch bis dahin kostet die Installation des Nachwuchsprogramms weiterhin Zeit, Arbeit, Nerven und Geld. Ich weiß, wovon ich rede.

Mein Kind wird heute 30.

Eins vorneweg: Eine 3 mit 0 ist auf jeden Fall besser als eine 3 ohne 0: Das Kind schläft durch, es lügt/stiehlt/schlägt nicht mehr, es hat einen Schulabschluss, es hat einen Universitätsabschluss, eine Arbeitsstelle, Menschen an seiner Seite.

Warum also meine Sorgen in früheren Lebensphasen? Was befürchtete ich denn? Wozu die Aufregung, wenn das Kind etwas anderes tat als ich für richtig hielt?

Es war nicht alles einfach, und doch möchte ich das Kind nicht downgeloadet, nicht mit einem Setup-Assistenten komfortabel zum Laufen gebracht haben. Ich will die Befürchtungen, die Krisen gehabt haben, denn ich will mit dem Kind zusammen gelaufen sein. Manches würde ich heute anders machen, ich hatte nicht immer Recht. Doch ich kann nichts mehr tun, als das Kind zu lieben, wie ich es immer getan habe. Heute danke ich Gott für dieses und meine anderen Kinder, für den Reichtum, den er mir als Mutter geschenkt hat.

Immer mit der Unruhe

Unkonzentriert saß ich gestern bei der Arbeit und brachte alles durcheinander. Um meine zitternden Nerven zu beruhigen, nahm ich etwas ein, rein pflanzlich, es half ein bisschen. Ich sah auf die Uhr, gegen Mittag wollten sie ankommen, er würde mich anrufen, versprach er am Abend zuvor. Gehört hatte ich nichts. Auf dem Mobiltelefon antwortete er nicht, auf dem Festnetz zu Hause auch nicht. Halb zwei.

Vor eineinhalb Jahren hätte ich nicht wissen müssen, um welche Uhrzeit er eintreffen würde. Heute kenne ich den Flugplan sowie die geplante Zeit für die Heimfahrt, und den ganzen Vormittag hatte ich mich gewehrt gegen das, was in meinem Kopf herumturnte. Bilder mit ihm auf dem Beifahrersitz, sein Freund am Steuer, wie damals. Diesmal ein neues Auto, sicherer als der Alfa, den es nicht mehr gibt. Bilder eines anderen Fahrers, der einen Fehler macht, wie damals. Aus allen Richtungen schossen Fahrzeuge in den Schirokko mit zwei Jungs auf dem Weg nach Hause. Heute könnte der Freund nicht einmal das Lenkrad herumreißen, sein rechter Arm blieb gelähmt seit dem Unfall. Wie man in diesem Zustand sicher fahren kann ohne Automatik oder Sonstiges – es ist mir ein Rätsel.

Halb drei. Ich versuchte es wieder auf sämtlichen Telefonen. Sein Mobiltelefon war jetzt ausgeschaltet. Meine Finger trommelten auf dem Schreibtisch herum, dann rief ich meine Tochter an. Auch sie hatte kein Lebenszeichen erhalten. Die Mutter des Freundes anrufen? Wahrscheinlich war sie bei der Arbeit. Ich versuchte es trotzdem, wählte die Nummer, es klingelte lange. Dann nahm sie ab. „Die Jungs? Ja, natürlich, die sitzen bei uns, sind gut angekommen.“

Dieser Affe.

Jedenfalls ist er da, nach drei Monaten in England. Der Sprachkurs half, er kann sich wieder besser konzentrieren. Nur die Stelle im Hirn, die einst für ein paar Gedanken an die Mutter zuständig war – die scheint noch nicht wieder im Einsatz zu sein.

Gedankengut

In mehreren Bananenschachteln lagern jetzt Bücher bei mir, ich brachte es nicht über mich, sie wegzugeben. Die Bücher gehören meiner Mutter, die in der neuen Wohnung keinen Platz mehr für sie hat. Ich stöberte ein bisschen und fand unter anderem einen Leitfaden über Heilige: wer für welche Anliegen zuständig ist und um Hilfe gebeten werden kann. Erstaunlich. Einst versuchte die christliche Kirche, den Viel-Götter-Kult von Naturreligionen auszurotten, und hier auf meinem Schreibtisch liegt „Fünfzig Helfer in der Not“. Darin fehlen noch Gott selbst, Jesus, Maria und sämtliche Engel. Nicht jede  Religion betet so viele Götter an wie wir Engel und Heilige!

Jedenfalls interessierte mich nur ein einziger Name, und ich fand ihn: Hildegard von Bingen. Bis vor einem Jahr wusste ich nur, dass sie eine Ordensfrau war, im Mittelalter lebte und sich mit Kräutern und Arzneien auskannte. Ich war nicht einmal sicher, ob sie überhaupt heilig ist, aber sonst fiel mir niemand ein und ich brauchte sie dringend. Also lag ich im Geist auf den Knien vor ihr, jeden Tag und jede Nacht, damit sie die Verletzungen meines Sohnes heile. So sehr versenkte ich mich in die Gebete, dass ich Visionen zu spüren glaubte und sah, wie sie seinen Kopf streichelte, damit er nach langen Tagen erwache aus dem Koma. Und es geschah. Da bat ich ihre Hände auf seine Brust, damit er wieder alleine atmen konnte. Auch das geschah. Ich beobachtete viele Male, wie sie seine Arme, Beine, Hüfte berührte. Die Knochen wuchsen zusammen, der Junge lernte wieder zu gehen. Noch heute bete ich zur heiligen Hildegard, sie hält jetzt seinen Kopf zwischen den Händen, um die Vergesslichkeit daraus zu vertreiben. Nun werde ich mal schauen, was Anselm Grün über sie zu sagen weiß.

Es entspannt mich, in den Abendstunden Schachtel für Schachtel durchzusehen und in all den Werken zu blättern. Jedes davon birgt Impulse, Gedanken und Antworten. Sie haben mit meiner Mutter zu tun oder auch mit mir, und ich ordne sie nach „werd ich lesen“, „liest vielleicht meine Tochter“, „ oder jemand anders“, und „kommt in den Keller“. Wer auch immer sie eines Tages weggibt – ich werde es nicht sein.

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„Fünfzig Helfer in der Not“ von Anselm Grün


Diese Schmerzen!

Ich betrachte meine Hände auf der Bettdecke, die Finger scheinen in kürzlich erfolgter Operation nachträglich aufgesteckt worden zu sein. Dick und steif sitzen die Glieder aufeinander, und wenn ich sie zur Faust einziehen will, wimmert jedes einzelne Gelenk. Drehe ich die Handteller nach oben, maulen meine Unterarme über braune und bläuliche Flecken, aufgeschürfte Haut und kleine Schnitte. Ich dehne meinen Oberkörper und da geraten die Muskeln in Schultern und Rücken in  Aufruhr: es stecken Messer drin, heulen sie, beweg dich nicht! Doch ich will aus dem Bett kommen und erhebe mich halb – nun sind es unterer Rücken, Gesäß und Oberschenkel, die um Einhalt flehen und mich stöhnend zurücksinken lassen. Um es auf einen Nenner zu bringen: Wie sind gestern umgezogen. Meine Mutter lebt nun in der hübschen Wohnung einer Seniorenanlage.

Zum ersten Mal lasse ich den Gedanken zu, dass ich nicht mehr so kraftvoll bin. Bei meinem eigenen Umzug vor drei Jahren jagte ich noch Treppen auf und ab wie ein wildgewordenes Pferd, und es waren damals mehr Möbel zu versetzen. Gestern fühlte ich mich im Lauf des Tages, als zerfalle ich, und heute bin ich nurmehr ein Restbestand. Um ehrlich zu sein: Auch bei meinen Jogging-Runden wähle ich seit längerem Abkürzungen, weil es anstrengend geworden ist. Ob dies von der Operation an den Füßen im letzten Jahr rührt oder ob der Schock wegen meines verunglückten Sohns etwas damit zu tun hat – ich weiß es nicht. Vielleicht klopft einfach mein Alter an. Man wächst, entwickelt sich und ergraut ja nicht gleichbleibend jeden Tag ein bisschen. Oft passiert lange Zeit nichts, doch dann kommt ein Ruck und man wird ein Stück weitergeworfen, in welche Richtung auch immer. Nichts bleibt, wie es ist.

Wer online ist, ist nicht in Gefahr!

Facebook ist gut für Mütter. Jedenfalls wenn ihre Kinder alt genug sind, sich im Internet zu bewegen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass Tochter oder Sohn ein Facebook-Profil angelegt hat, ist hoch. Der Vorteil für die Mutter: Auch sie kann dort ein Profil anlegen oder sie kennt einen, der ein Profil besitzt, und dann – sieht sie, wenn ihr Kind online ist. Nicht dass es um’s Chatten geht. Man erfährt doch nie, was man wissen will, schon gar nicht vom eigenen Kind. Aber dessen Namen taucht rechts unten in der Bildschirmecke auf wie die richtige Antwort auf eine Frage, und dahinter steht in Klammern: „Bin am Leben“. „Bin nicht im Krankenhaus“. „Bin nicht verloren gegangen.“ „Bin bereit zum Chatten.“ „Mir geht’s gut.“ Diese Zusätze sind geheime Botschaften, nur für Mütter lesbar. Sie sind aber wichtig, wenn ein Kind sich aufgemacht hat, die Welt zu erkunden und darüber wenig Einblick gewährt. Da! Jetzt ist sie, jetzt ist er online. Mehr braucht es manchmal nicht.