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Auf einer Rückreise

Als wir heute nach einem Ausflug an der Stelle vorbeifuhren, an der mein Sohn vor einem Jahr und knapp vier Monaten verunglückte, meinte ich, das Geräusch zu hören. Es kreischte, als das andere Fahrzeug in ihn und seinen Freund raste. Dabei war es wohl eher ein Knall, doch ich hörte etwas Hohes, Grässliches, als habe ich selbst mit im Auto gesessen. Die halbe Sekunde vor dem Aufprall hakte sich fest. Was hat er gesehen, gespürt, empfunden? Man liest, dass es viel sein kann, was in diesem Moment durch den Kopf huschen kann. Er könnte realisiert haben, dass ein schwarzes Fahrzeug auf ihn zuschoss, vielleicht hörte er noch das Krachen. Erinnern kann er sich nicht. Die Bilder und Wahrnehmungen sind eingeschlossen in der Tiefe seines Bewusstseins, sie können oder sollen nicht heraus. Ich klappte die Sonnenblende herunter, mir war heiß.

Es ist schwer zu begreifen, dass es für immer Einschränkungen geben könnte im Leben meines Kindes. Er braucht Strategien, um sein Gedächtnis zu überlisten, das ihn oft im Stich lässt. Noch heute nimmt er Schmerzmittel wegen der Knochenbrüche. Anfang Zwanzig ist er, alles liegt vor ihm.

Als wir nach Hause kamen, war ich erschöpft.

Diese Schmerzen!

Ich betrachte meine Hände auf der Bettdecke, die Finger scheinen in kürzlich erfolgter Operation nachträglich aufgesteckt worden zu sein. Dick und steif sitzen die Glieder aufeinander, und wenn ich sie zur Faust einziehen will, wimmert jedes einzelne Gelenk. Drehe ich die Handteller nach oben, maulen meine Unterarme über braune und bläuliche Flecken, aufgeschürfte Haut und kleine Schnitte. Ich dehne meinen Oberkörper und da geraten die Muskeln in Schultern und Rücken in  Aufruhr: es stecken Messer drin, heulen sie, beweg dich nicht! Doch ich will aus dem Bett kommen und erhebe mich halb – nun sind es unterer Rücken, Gesäß und Oberschenkel, die um Einhalt flehen und mich stöhnend zurücksinken lassen. Um es auf einen Nenner zu bringen: Wie sind gestern umgezogen. Meine Mutter lebt nun in der hübschen Wohnung einer Seniorenanlage.

Zum ersten Mal lasse ich den Gedanken zu, dass ich nicht mehr so kraftvoll bin. Bei meinem eigenen Umzug vor drei Jahren jagte ich noch Treppen auf und ab wie ein wildgewordenes Pferd, und es waren damals mehr Möbel zu versetzen. Gestern fühlte ich mich im Lauf des Tages, als zerfalle ich, und heute bin ich nurmehr ein Restbestand. Um ehrlich zu sein: Auch bei meinen Jogging-Runden wähle ich seit längerem Abkürzungen, weil es anstrengend geworden ist. Ob dies von der Operation an den Füßen im letzten Jahr rührt oder ob der Schock wegen meines verunglückten Sohns etwas damit zu tun hat – ich weiß es nicht. Vielleicht klopft einfach mein Alter an. Man wächst, entwickelt sich und ergraut ja nicht gleichbleibend jeden Tag ein bisschen. Oft passiert lange Zeit nichts, doch dann kommt ein Ruck und man wird ein Stück weitergeworfen, in welche Richtung auch immer. Nichts bleibt, wie es ist.