Schlagwort-Archive: Verletzungen

Eingeschnitten

Vor kurzem trieb sich der Liebste beim Seeputzen des Angelvereins einen Schilfspan unter den Fingernagel. Zwei Tage später quetschte er einen anderen Finger beim Aufbau eines Stahlregals. Tags darauf stach ich mir den Ohrstecker in den Daumen, den ich aus dem Ohrläppchen meiner Mutter befreien wollte. Eine Stunde danach bohrte sich eine Scherbe in meine Fingerkuppe beim Versuch, ein zerbrochenes Weinglas in den Glascontainer zu werfen. Am nächsten Tag war es eine Fischdose, die ich ungeschickt öffnete und die einen weiteren Finger anritzte, wenige Stunden danach die Folie eines Frischkäsebechers.

Nicht dass wir generell Probleme mit der Feinmotorik hätten. Wir überstehen ohne weiteres auch längere Zeiträume unlädiert. Doch hier sitzen wir nun mit unseren Verletzungen. Die Esoterik kennt energetische Verwerfungen, aufgrund derer bestimmte Ereignisse geradezu gezwungen sind stattzufinden. Mit sechs verwundeten Fingern in wenigen Tagen tendiere ich dazu, solchen Interpretationen Raum zu geben. Aber welche Energien wären hier am Werk? Fehlt es uns an Fingerspitzengefühl?

Samuel Koch wird langsam aufgeweckt

Auch ich falle der kollektiven Anteilnahme anheim, aus besonderem Grund. „Aus dem Koma zurückholen … etwa drei Tage“. Das sagten sie auch zu uns, vor eineinhalb Jahren. Etwa drei Tage dauere es, bis der Junge erwacht. Es wurden fünf. Dieser Albtraum, dieses Gelähmtsein, das Entsetzen – es lässt sich nicht beschreiben. Man taumelt von einer Stunde zur nächsten. Man denkt, das Kind wacht nicht mehr auf.

Unser ganzes Leben lang planen und organisieren wir. Wir entwerfen Zeitpläne, legen Abläufe fest und was nicht geht, planen wir neu. Aber damals, am Bett unseres Sohnes, da gab es nichts zu planen, ich wurde zu Stein. Wir warteten, dass er aufwacht. Wir warteten, dass er aufwacht, damit es uns besser geht, doch der Junge hatte seinen eigenen Zeitplan. Und er machte ihn ohne uns.

Ich weiß, was die Eltern von Samuel Koch jetzt aushalten müssen und was da noch kommt. Nichts wird mehr sein wie vorher.

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Anderes Thema

Auf einer Rückreise

Als wir heute nach einem Ausflug an der Stelle vorbeifuhren, an der mein Sohn vor einem Jahr und knapp vier Monaten verunglückte, meinte ich, das Geräusch zu hören. Es kreischte, als das andere Fahrzeug in ihn und seinen Freund raste. Dabei war es wohl eher ein Knall, doch ich hörte etwas Hohes, Grässliches, als habe ich selbst mit im Auto gesessen. Die halbe Sekunde vor dem Aufprall hakte sich fest. Was hat er gesehen, gespürt, empfunden? Man liest, dass es viel sein kann, was in diesem Moment durch den Kopf huschen kann. Er könnte realisiert haben, dass ein schwarzes Fahrzeug auf ihn zuschoss, vielleicht hörte er noch das Krachen. Erinnern kann er sich nicht. Die Bilder und Wahrnehmungen sind eingeschlossen in der Tiefe seines Bewusstseins, sie können oder sollen nicht heraus. Ich klappte die Sonnenblende herunter, mir war heiß.

Es ist schwer zu begreifen, dass es für immer Einschränkungen geben könnte im Leben meines Kindes. Er braucht Strategien, um sein Gedächtnis zu überlisten, das ihn oft im Stich lässt. Noch heute nimmt er Schmerzmittel wegen der Knochenbrüche. Anfang Zwanzig ist er, alles liegt vor ihm.

Als wir nach Hause kamen, war ich erschöpft.

Abartig geil

Tagelang schob ich mich durch überfüllte Straßen. Rutenfest! Den Ravensburgern unter den Lesern muss ich das nicht erklären, den andern kann ich es nicht. Mein Sohn fehlte. Im Biergarten schien trotz des Gedränges ein Platz leer geblieben zu sein. Er war das Thema während des ganzen Festes und alles, was ich tun konnte war, wie ein Tourist mit der Kamera Bilder einzufangen für ihn. Er hatte es sich gewünscht, damit er wenigstens etwas zum Anschauen hat.

Übrigens war das Rutenfest nicht der Grund, dass ich nichts berichtet habe in den letzten Tagen. Mein Computer ist nur gerade dabei sich zu verabschieden. Aber nun endlich zur „abartig geilen“ Neuheit (O-Ton des Sohnes) von heute: Er kann wieder laufen! Mit einem Gerät durfte er die ersten Gehversuche machen, wie glücklich er war! Ganz verändert klang seine Stimme, als er mich anrief. Wie dieses Gerät funktioniert, hab ich nicht verstanden, irgendwo stützt er sich mit den Unterarmen auf, damit Becken und Bein nicht voll belastet werden, und es funktioniert. Nur das ist wichtig:  Er kann damit gehen. Das Gleichgewicht zu halten fiel ihm schwer, im Becken knackte es und er hat jetzt Muskelkater in den dünn gewordenen Waden. Aber mit seinen eigenen Beinen ist er den Gang auf- und abgewandert, und das ist – abartig geil!

Am Montag und Dienstag war er in Ulm, dort wurden am linken Arm die Drähte entfernt. Es tut ihm noch weh, doch die Schiene ist weg und jetzt sieht man, dass sein Oberarm ungefähr noch denselben Umfang hat wie sein Unterarm. Intensives Aufbautraining liegt also vor ihm.

Morgen ist sein 21. Geburtstag. Was für ein Geschenk, dass wir das mit ihm erleben dürfen.

Es war so, bestimmt

Zum Thema seelische Verletzungen hat mir jemand etwas geschrieben, das ich gerne wiedergeben möchte:

„Beide werden lernen, dass niemand an dem Unfall ‚Schuld’ hat. Es musste so kommen – und alle haben etwas daraus zu lernen. Alle. Die Frau, die gestorben ist, wurde nicht getötet, sondern sie starb. Weil es Zeit für sie war. Auch wenn es hart klingt und auch wenn es für die Hinterbliebenen schwer ist – die Frau wäre genau in dem Moment so oder so gestorben. Das Universum wählte für sie den Unfall – es hätte auch etwas anderes sein können.“

Was hier Universum genannt wird, ist für mich Gott und für andere das Schicksal. Ich möchte es glauben: Es war so bestimmt. Denn der Unglücksfahrer stieg an diesem Tag nicht ins Auto und dachte bei sich: „Heute bringe ich jemanden um.“ Er war nur ein Teil dessen, was für diesen Tag vorgesehen war, genau wie seine beiden Mitfahrerinnen und unsere Buben.

In der Klinik waren wir heute von mittags bis abends, um da zu sein, wenn unser Kind aufstehen will. Er darf es nicht, versucht es aber immer und ist dann nur schwer zu beruhigen. Wenn er geschlafen hat und wach wird, ist er manchmal so durcheinander, dass er nichts versteht und nicht einsieht, warum er im Bett bleiben muss. Auf der Station ist am Wochenende aber wenig Personal und so passten wir auf ihn auf. Meine Tochter und ihr Freund kamen mit, und wir wechselten uns ab. Doch die meiste Zeit war er klar und fügte sich.

Möglicherweise kann er morgen doch operiert werden, weil vielleicht das Risiko zu groß ist, dass er bei einem seiner Aufstehversuche stürzt oder die Schrauben in seinem Bein sich lockern. Er könnte als Notfall gelten und die OP kann dann vorgenommen werden. Ansonsten muss der Fall vor Gericht und er könnte frühestens am Mittwoch operiert werden.Vor Gericht – ich kann es immer noch nicht fassen, dass fremde Menschen über einen körperlichen Eingriff entscheiden und nicht ich, die Mutter. Aber der Junge ist nicht bei klarem Verstand, kann also nicht selbst einwilligen, und da er volljährig ist, haben wir Eltern nichts mehr zu sagen.

Morgen wissen wir mehr.

Anderes Thema

Die schwerste Zeit meines Lebens begann vorgestern, am Pfingstsonntag, nachmittags gegen 17h. Mein Sohn kehrte mit seinem Freund vom Urlaub zurück, sie schafften es fast bis nach Hause, da raste ein Audi auf der Gegenspur auf sie zu.


 

Auf dem Beifahrersitz des roten Alfas saß mein Sohn.

Er und sein Freund wurden aus dem Auto heraus geschnitten, mit dem Rettungshubschrauber brachte man mein Kind in die Uniklinik nach Ulm. Noch in der Nacht fuhren wir zu ihm, weinend, seine Freundin, mein Lebenspartner und ich. In den langen Minuten, bevor wir zu ihm durften, machte ich mir Gedanken darüber, dass er nun die mündliche Prüfung versäumt, um seine Ausbildung abzuschließen. Ich unterhielt mich sogar mit der Ärztin darüber, so daneben war ich. Als wir endlich zu ihm gelassen wurden, fanden wir in einem Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Geräten und Monitoren meinen Sohn, ein junger Mann, tief in sich hinabgesunken lag er da und zeigte kein Leben. Nur seine Brust hob und senkte sich im Takt der Beatmungsmaschine. Man hatte ihn in ein künstliches Koma versetzt.  Kühl war er. Ich erschrak, als ich sein Gesicht berührte, weil es kalt war. Das komme vom Blutverlust.

Mehrfache Knochenbrüche an beiden Beinen und am linken Arm, das Becken gebrochen, Lunge und Herz gequetscht, mehrere Hirnblutungen – so beschrieben die Ärzte seine Verletzungen. Insgesamt sei sein Zustand stabil. Das war gestern.

Heute hat man die Narkosemittel abgesetzt, um ihn aus dem Koma erwachen zu lassen. Aber er wachte nicht auf. Gelegentlich warf er den Kopf hin und her, öffnete die Augen ohne zu sehen, stöhnte, versank wieder. Über drei Stunden lang hielten wir seine Hand, sein Vater und ich. Wir streichelten sein Haar, beruhigten ihn. Und uns, gegenseitig. Wir wollten bei ihm sein, wenn er aufwacht, aber er wachte nicht auf. Wir hängten ein Kreuzchen über sein Bett, ein Familienstück, das ihn beschützt. Es ist schwer.

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Bitte habt Verständnis, wenn ich niemanden anrufe oder e-mails schreibe. Ich werde jeden Tag nach der Arbeit bei ihm sein und halte euch hier auf dem Laufenden. Ich kann das im Moment nicht jedem einzeln erzählen.

Wenn ihr etwas für ihn tun wollte: Betet für ihn. Bitte. Oder schickt ihm gute Gedanken, irgendwas, es hilft ihm. Er wird bald aufwachen. Ganz bestimmt. Bitte helft mit.

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