Bestellen dürfen wir in der Lounge. Es wird uns eine Speisekarte überreicht, in der mehrgängige Menüs beschrieben werden, ohne auch nur eine Speise beim Namen zu nennen. Wir können zwischen Vetetarisch, Geflügel, Fisch und Rind wählen, den Rest werden wir später erfahren.
Danach lernen wir René kennen, den Kellner, der uns den Abend über betreuen wird. Er bittet mich, die Hände von hinten auf seine Schultern zu legen, der geliebte Brite legt seine Hände auf meine Schultern. Tschutschutschu, die Eisenbahn … so ziehen wir ins Restaurant ein. Noch sind wir die Überlegenen.
Die Kellner sind durchweg blind oder stark sehbehindert und machen trotzdem eine ausgezeichnete Arbeit, denn im Inneren des Saals sind sie die Kings, und wir die Deppen. Es ist hier so finster, dass ich es physisch spüren kann. Es liegt wie ein Schwamm auf meinen Augen, eine dicke Schicht von Irgendwas und ich versuche immer wieder, es wegzuwischen. Man sieht nichts. Und ich meine: nichts.
René erklärt uns liebenswürdig, wo auf unserem Tisch Teller, Gabel, Glas und so weiter zu finden sind. Er duzt uns, und das gefällt mir. Gehören wir nicht alle zusammen? Die gut dreißig Jahre Altersunterschied sieht er ja nicht. Bald bringt er den ersten Gang und das Suchen nach den Speisen sorgt für Gelächter und Gesprächsstoff, es klappt aber erstaunlich gut. Man muss nur mit dem Gesicht nahe über dem Teller bleiben, dann kleckert man auch nicht, von den Soßenspritzern im Gesicht einmal abgesehen, aber die sieht ja keiner. (Wie lustig es wäre, wenn einer mal versehentlich an den Lichtschalter käme!) Nach ein paar Bissen identifiziere ich Krabbensalat und Meerrettich. Ob es die veränderte Wahrnehmung ist oder nicht – es ist höchstwahrscheinlich der beste Krabbensalat, den ich je gegessen habe!
Wie findet René uns hier nur? „Wir kennen den Weg“, lacht er, „es ist ja unser Job!“ Aber immer wieder mal vertut sich ein Kellner um ein paar Zentimeter und rempelt leicht an unseren Tisch. Das passiert jedoch nur, wenn wir gerade nicht reden. Natürlich kommt der geliebte Brite in Versuchung, mal ein Bein rauszustrecken, wenn wieder eine Polonaise an uns vorbeikichert. Ich hoffe er hat es nicht gemacht, gefallen ist jedenfalls niemand. Man kommt auf die dümmsten Gedanken hier.
Zwei bis drei Stunden später – man kann ja nicht auf die Uhr sehen – nach dem letzten Gang und als es „nichts mehr zu tun“ gibt, fängt mein Hirn an Faxen zu machen. Ich bin immerzu damit beschäftigt, meine Umgebung abzuhören: Wie groß ist der Raum, wieviele Menschen befinden sich darin, wie weit sind die Stimmen entfernt, in welchen Sprachen reden sie, wo gehts hier raus? Mein Instinkt fordert Sicherheit, es ist ungewohnt und irgendwann möchten wir zurück ins Licht und sind dankbar, dass es so einfach ist. René bringt uns wieder nach draußen.
Bezahlt wird in der beleuchteten Lounge, dort erhalten wir auch die „Auflösung“, also die Menükarte und erfahren, was wir überhaupt gegessen haben. Bei fast allem lag ich richtig, nur das vermeintliche Zitronensorbet war ein Passionsfrucht-Parfait. Billig ist das Ganze nicht, vier Gänge kosten zwischen 50 und 70 EUR pro Person. Dafür gibt es ein fantastisches Essen, eine krasse Erfahrung, einen Klasse Abend. Von fünf Sternen gebe ich fünf für die Unsicht-Bar in Berlin, größtes Dunkelrestaurant der Welt.
Beim Abendessen.