Schlagwort-Archive: Gedicht

Zerstoben sind die Wolkenmassen

SonnenaufgangZerstoben sind die Wolkenmassen,
Die Morgensonn’ ins Fenster scheint:
Nun kann ich wieder mal nicht fassen,
Dass ich die Nacht hindurch geweint.

Dahin ist alles, was mich drückte,
Das Aug‘ ist klar, der Sinn ist frei,
Und was nur je mein Herz entzückte,
Tanzt wieder, lachend, mir vorbei.

Es grüßt, es nickt; ich steh‘ betroffen,
Geblendet schier von all dem Licht:
Das alte, liebe, böse Hoffen –
Die Seele lässt es einmal nicht.

Theodor Fontane

Und was sehr ihr so, wenn ihr aus dem Fenster schaut?
Ich wünsche euch allen einen schönen Sonntag!

Vorfrühling

Vorfrühling

Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung
an der Wiesen aufgedecktes Grau.
Kleine Wasser ändern die Betonung.
Zärtlichkeiten, ungenau,

greifen nach der Erde aus dem Raum.
Wege gehen weit ins Land und zeigens.
Unvermutet siehst du seines Steigens
Ausdruck in dem leeren Baum.

Rainer Maria Rilke

Ich wünsche euch allen einen schönen,
vorfrühlinghaften Sonntag!

 

Die Selbstkritik hat viel für sich

Die Selbstkritik hat viel für sich.
Gesetzt den Fall, ich tadle mich:
So hab ich erstens den Gewinn,
Dass ich so hübsch bescheiden bin;
Zum zweiten denken sich die Leut,
Der Mann ist lauter Redlichkeit;
Auch schnapp ich drittens diesen Bissen
Vorweg den andern Kritiküssen;
Und viertens hoff ich außerdem
Auf Widerspruch, der mir genehm.
So kommt es denn zuletzt heraus,
Dass ich ein ganz famoses Haus.

Wilhelm Busch

Auf einer Meierei

Auf einer Meierei,
da war einmal ein braves Huhn
das legte, wie die Hühner tun
an jedem Tag ein Ei
und kakelte, mirakelte
mirakelte, spektakelte
spektakelte, mirakelte
als ob´s ein Wunder sei

Es war ein Teich dabei.
Darin ein braver Karpfen saß,
der stillvergnügt sein Futter fraß,
der hörte das Geschrei,
wie’s kakelte, mirakelte,
mirakelte, spektakelte,
spektakelte, mirakelte,
als ob’s ein Wunder sei.

Da sprach der Karpfen: „Ei!
Alljährlich leg ich ’ne Million
und rühm mich des mit keinem Ton.
Wenn ich um jedes Ei
so kakelte, mirakelte,
mirakelte, spektakelte,
spektakelte, mirakelte,
was gäb’s für ein Geschrei!“

Heinrich Seidel

Bild von Capri23auto auf Pixabay

Die Welt ist allezeit schön

Im Frühling prangt die schöne Welt
In einem fast smaragdnen Schein.

(Was für ein langweiliges Gedicht)

Im Sommer glänzt das reife Feld
Und scheint dem Golde gleich zu sein.
Im Herbste sieht man als Opalen …

Ich hör schon auf, den Rest kann man sich sparen.
Aber der letzte Vers bleibt bei mir hängen:

… wenn wir die Welt aufmerksam sehn,
Ist sie zu allen Zeiten schön.

Mist. Warum vergess ich das immer?

Und so fiel mir der heutige Abend ein, als ich völlig jahreszeitenunabhängig ein schnelles Essen zubereitet hatte (die abgekochten Nudeln von gestern mit Ei und Schnittlauch) und, da der geliebte Brite nicht da war, mit meinem Teller aufs Sofa gesunken war vor den laufenden Fernseher, wo ich es mir schmecken ließ.

Bisschen kulturlos aber – Mann, das war gut.

Solche Momente sollten nicht untergehen im alltäglichen Irrsinn.

 


Und was hat es bei euch heute Schönes gegeben?

 

Wen das Gedicht doch interessiert:
Im Frühling prangt die schöne Welt
In einem fast smaragdnen Schein.
Im Sommer glänzt das reife Feld
Und scheint dem Golde gleich zu sein.
Im Herbste sieht man als Opalen
Der Bäume bunte Blätter strahlen.
Im Winter schmückt ein Schein, wie Diamant
Und reines Silber, Flut und Land.
Ja kurz, wenn wir die Welt aufmerksam sehn,
Ist sie zu allen Zeiten schön
Barthold Heinrich Brockes

Meeres Stille


Tiefe Stille herrscht im Wasser,
Ohne Regung ruht das Meer,
Und bekümmert sieht der Fischer
Glatte Flächen ringsumher.
Keine Luft von keiner Seite!
Todesstille fürchterlich.
In der ungeheuern Weite
Reget keine Welle sich.

Johann Wolfgang von Goethe

Der Zufall (?) will es, dass ich kurz nach dem plötzlichen Tod eines Kollegen auf dieses Gedicht stieß. Seither lese ich es jeden Tag und verstehe das Meer hier als Sinnbild des Lebens. Vielleicht fühlt man sich wie der Fischer, wenn man hinübergegangen ist.

 

Der Hardy-Baum

Auf unseren Friedhöfen werden Gräber meist nach zwanzig Jahren entfernt, wenn nicht gerade VIP-Stars darin liegen. In anderen Ländern ist das nicht so.

In London z.B. gibt es den Friedhof St. Pancras, von dem vor etwa zweihundert Jahren ein Teil für den Bau der Midland Railways Line benötigt wurde. Obwohl die Gräber im fraglichen Bereich schon hundert oder zweihundert Jahre alt und zum Teil wohl auch vergessen waren, wäre es respektlos gewesen, die Überreste einfach zu entsorgen. Also wurden sie  ausgegraben und an anderer Stelle unter einer Esche wieder bestattet. Die Grabsteine wurden um den Baum herum angeordnet, wo sie im Lauf der Jahre zum Teil überwachsen wurden.

Projektleiter dieser Umsiedlung war der Dichter Thomas Hardy (1840-1928), der in jungen Jahren als Architekt arbeitete, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Inspiriert von seiner gruseligen Aufgabe verfasste er das folgende Gedicht:

The Levelled Churchyard
O passenger, pray list and catch
Our sighs and piteous groans,
Half stifled in this jumbled patch
Of wrenched memorial stones!
We late-lamented, resting here,
Are mixed to human jam,
And each to each exclaims in fear,
‚I know not which I am!’

Der planierte Friedhof
Oh Wanderer, sieh nur und hör
unser Seufzen und klagendes Stöhnen
das halb erstickt aus Gewirren
entrissener Grabsteine dringt!
Gott hab uns selig, wir liegen zu
menschlicher Pampe vermengt,
und einer ruft ängstlich dem anderen zu
Ich weiß nicht mehr, wer ich bin!“

© Anhora

Die Übersetzung entspricht nicht genau dem englischen Text, klingt aber besser als eine wörtliche Übertragung. Mehr dazu auf www.kuriositas.com.

Limerick

Ein Mann aus dem Raum Torkenweiler
fand einst ein Problem am Verteiler.
Das störte ihn sehr,
im dicksten Verkehr
fuhr nämlich
sein Auto nicht weiter.

© Anhora


Der Mann ist mir übrigens persönlich bekannt und dem Fahrzeug geht es ausgezeichnet. Schon weil es mit Diesel fährt und gar keinen Verteiler hat, ich brauchte das Problem nur wegen des Reims.

Mit diesem Limerick gewinne ich natürlich keinen Preis, dafür ist er juristisch gesehen einwandfrei und beleidigt ist auch niemand. Das wäre nämlich nicht mein Stil. Ich knoble einfach gerne, und Gedichte sind eine tolle Möglichkeit dazu. Limericks stammen übrigens aus England oder Irland (genau weiß man es nicht), haben eine bestimmte Versform und eine witzige Pointe.
Könner schreiben Limericks so.
Nicht so.

Solchermaßen eingestimmt begeben wir uns demnächst ins große Britannien, um der Heimat des Geliebten wieder einmal guten Tag zu sagen. See you!

 

Silvester

FarbenfeuerwerkSchlusspunkt
In sich gehen
Loslasssen
Verabschieden
Entsorgen
S‚isch over
Tschingderassa
Erdbeerbowle
Rutschparty

 
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen meinen Lesern bedanken. Danke, dass ihr mich besucht, danke, dass ihr meine Texte lest und kommentiert, danke an alle BloggerInnen, die mich mit ihren eigenen Beiträgen bereichern. Ich freue mich auf ein neues Jahr mit euch.  🙂

Rutscht gut rein und euch allen ein gesundes, glückliches Jahr 2016!

Abb.: © Ursula Holly

Das brennende Archiv

menschen gedenken eines menschen.
herz – brennendes archiv!
es ist erinnerung der engel;
erinnerung an alte gaben.
die formel tod, die überfahrt –
die wir zu übersetzen haben.

(Thomas Kling: Das brennende Archiv)

Gefunden in der Frankfurter Anthologie der FAZ, hier gibt es auch eine Interpretation.

Feuer

 

 

… noch nicht zu spät

Die welt geht verloren
wäre da nicht ein
wundervoller glaube
nicht an den himmel
nein
an den einen
der sich aufrichten
und seine wahrheit
über unsere köpfe
hinweg
rufen wird

Der uns an unsere
menschlichkeit
erinnert
an unsere zuversicht
an die brüderliche
liebe
an die nächstenliebe

Und wenn wir
sein wort hören
werden wir
verstehen
nicht die lüge
und die gier
länger dulden

Wir werden neu geboren
in eine gemeinschaft der
gebenden
ohne heuchelei
uns des alltags
erfreuen
unseren kindern
ein vorbild sein

Die wasser
die wiesen und wälder
segnen
und alle pflanzen und tiere
respektieren
mit den völkern
der erde
eins werden

Es ist noch nicht
zu spät
den traum zu
leben
und die erfüllung
zu suchen
in jeder stunde
deiner zeit
unter der sonne
wie auch
im sanften schlaf
unterm sternenlicht

Der macht
über uns
dankbarkeit
zu zeigen und ohne
trauer
in der vollendung
unseres seins
zufrieden und
nicht in einsamkeit
zu sterben

von berndg42, den ich bei bei Heavens Food gefunden habe.

Mai-Rondell

In der Pfanne brutzelt ein Bärlauch-Omelette
es duftet nach Knoblauch und Mai
Ich koste frisches Rhabarberkompott
In der Pfanne brutzelt ein Bärlauch-Omelette
Radieschen sind im Gemüsefach
Ein Fliederstrauß steht auf dem Tisch
In der Pfanne brutzelt ein Bärlauch-Omelette
es duftet nach Knoblauch und Mai


Das Rondell – für kreative Köpfe

Ein Rondell besteht aus 8 Verszeilen.
Die Zeilen 1, 4 und 7 sind identisch.
Die Zeilen 2 bzw. 8 sind ebenfalls identisch, sie sind eine Fortführung der 1. bzw. 7. Zeile, wenn möglich als Nebensatz.
Alle anderen Verszeilen, also 3, 5 und 6, sind weitere Gedanken zum Thema des Gedichts und frei wählbar. Also:

Titel des Rondells
Zeile A
Zeile B
Zeile C
Zeile A
Zeile D
Zeile E
Zeile A
Zeile B

Und was soll das Ganze? Gedichte wie Rondelle, Elfchen und dergleichen dienen der Kreativitätsförderung, denn bei den Verszeilen spielen Länge, Rhythmus, Hebungen, Reim usw. keine Rolle. Es geht nur um die Einfälle zu einem bestimmten Thema, danach kann die Wirkung des Gedichts betrachtet oder als Inspiration genutzt werden. Oder auch nicht. In erster Linie geht es um das Schreiben. Der Aufbau des Rondells ist nicht streng, es gibt verschiedene Varianten. Gemeinsam ist jedoch allen, dass Zeilen wiederholt werden.

Mehr dazu
 
Abb.: (c) sarang

April

Featured image

Zwei verliebte Apfelblüten
sah‘n ein Kind beim Ziegenhüten
pflück‘ uns, baten sie es fein
woll’n so gern beisammen sein

 
 


Klapphornvers – Das kleine Scherzgedicht

Diese Gedichtform besteht aus vier Zeilen mit je vier oder drei Hebungen im jambischen Takt. Meist geht es um zwei Personen, Tiere, Pflanzen oder auch unbelebte Objekte, an denen etwas Ungewöhnliches spaßhaft beschrieben werden kann.

Mehr darüber

Abb.: (c) Sylvia W.

Auf Ostern

von Notker dem Stammler

Dem aus Grabesnacht
Auferstandnen Heiland huldigt die Natur:
Blum und Saatgefild
Sind erwacht zu neuem Leben;
Der Vögel Chor
Nach des Winters Rauhreif singt sein Jubellied.
Heller strahlen nun
Mond und Sonne, die des Heilands Tod verstört,
Und im frischen Grün
Preist die Erde den Erstandnen,
Die, als er starb,
Dumpf erbebend ihrem Einsturz nahe schien.

(aus dem Lateinischen von Paul von Winterfeld)

 

Man mag an Gott und die Auferstehung und all das glauben oder nicht.
Ein tröstlicher Gedanke ist es allemal.

Notker I. von St. Gallen, aufgrund einer leichten Sprachbehinderung durch einen Zahnfehler auch Notker Balbulus oder Notker der Stammler genannt, war ein bedeutender Gelehrter und Dichter. Er wurde um 840 in der Gegend von Toggenburg geboren und starb  912 in St. Gallen. Sein Gedenktag ist der 6. April.

Abb.: (c) Sylvia W.

Januar

P1020010
Abb.: (c) Sylvia W.

Kristallluft
Gefrorene Felder
Schneehaufen am Straßenrand
Ich schließe die Fenster
Januar


Elfchen schreiben – das kurze, kreative Gedicht

Ein Elfchen ist ein Gedicht, das aus elf Wörtern und fünf Zeilen besteht. So schreibt man ein Elfchen:

1. Zeile: 1 Wort (Stimmung, Adjektiv, Farbe, oder auch ein Verb)
2. Zeile: 2 Worte (Wer tut etwas? Wo geschieht es? Was geschieht?)
3. Zeile: 3 Worte (Wer tut etwas? Wo geschieht es? Was geschieht?)
4. Zeile: 4 Worte (Häufig: Bezug zum Dichter, Satz beginnt oft mit „ich …”)
5. Zeile: 1 Wort (Gefühl, Zusammenfassung, runder Abschluss oder überraschende Wendung)