Archiv der Kategorie: Herbst

Ruhestörung

Ein wunderschönes altes englisches Lied handelt von einem jungen Mann, der nach dem Tod seiner Geliebten nicht zu trösten ist. Täglich steht er weinend an ihrem Grab, bis sie ihm nach zwölf Monaten und einem Tag als Geist erscheint. Sie beschwert sich, dass sie bei all dem Jammern und Klagen nicht in Ruhe schlafen könne, und wer denn das sei.

Er gibt sich zu erkennen und bittet inständig um einen Kuss, doch dann ... if you should kiss my clay-cold lips … würde er sterben, antwortet sie, und ihre Herzen würden zerfallen wie vertrocknete Blumen. Sie fordert ihn auf, das Leben zu nehmen wie es ist es zu genießen, solange er es hat.

In diesem Sinn wünsche ich euch – gerade heute – einen erfüllten und mit allen Sinnen gelebten Tag.

 

Cold blows the wind upon my true love
Soft falls the gentle rain
I never had but one true love
And in Greenwood she lies slain

I’d lose much for my true love
As any young man may
I’ll sit and I’ll mourn all on your grave
For twelve months and a day

When the twelfth month and a day had passed
The ghost began to speak
„Who is it that sits all on my grave
And will not let me sleep?“

„‚Tis I, ‚tis I, thine own true love
That sits all on your grave
I ask of one kiss from your sweet lips
And that is all that I crave“

„My lips, they are as clay, my love
My breath is earthy strong
And if you should kiss my clay-cold lips
Your time, ‚twould not be long“

„Look down in the yonder garden fair
Love, where we used to walk
The fairest flower that ever bloomed
Has withered and too the stalk“

„The stalk, it has withered and dried, my love
So will our hearts decay
So make yourself content, my love
‚Til death calls you away“

Bodensee-Impressionen

Gestern in Wasserburg: Nebeldunst und Spätherbstsonne schaffen eine Stimmung, in der man sich verlieren kann: abgeschieden, friedvoll, versonnen. Ohne die touristenbedingte Übervölkerung entdeckt man wieder den Charme der kleinen Bodensee-Ortschaften.

Erschreckend sind nur die Wasserstände: Schon im Sommer endeten viele Badetreppchen weit über dem Wasserspiegel. Die Uferstreifen sind so breit wie nie, am Rheindamm ist eine neue Insel entstanden. Aber der niedrigste gemessene Wasserstand war 1858, gefolgt von einem annähernden Wert im Jahr 1902. Und das ganz ohne Klimaerwärmung.

Wir betrachten die ungewohnten Kiesstreifen an der Promenade, schauen aufs Wasser hinaus und wollen glauben, dass die Natur sich nicht unterkriegen lässt.

 

St. Martin im Wandel der Zeit

An den Absperrungen um einen kleinen Vorplatz herum stehen junge Leute mit ihren Kindern, vor ihnen reitet ein römischer Soldat im Kreis. Eine Frau mit Kopfschleier schaut ebenfalls zu, während ihr kleiner Sohn nur Augen für den blinkenden Stab hat, an dem seine Laterne hängt. Er hält ihn höher und niedriger, schwenkt ihn hin und her und marschiert dann feierlich auf und ab, die Laterne vor sich haltend wie ein Schwert.

Währenddessen setzt der Römer zum Mantelteilen an, da bricht die Stimme des Erzählers ab. Seine Lippen bewegen sich weiter, aber man hört nichts mehr. Sekundenlang passiert nichts, das Publikum wird unruhig. Nun springt der Bettler auf. Er huscht zu dem Mann, entreißt ihm das Mikrofon, fummelt etwas an der Tonanlage, „eins, zwei“ hört man, es geht wieder. Der Bettler eilt an seinen Platz zurück und kauert sich wieder auf den Boden nieder.

„Brenne auf mein Licht, brenne auf mein Licht …“ singt ein kleiner Chor. Der Bettler ist inzwischen eingekleidet, der Soldat reitet weg, die Kinder halten ihre Laternen hoch, die Eltern ihre Handys.

„… und dein heller Schein, und dein heller Schein, der soll für immer bei uns sein.“

Nur darum gehts.

 

Jahrmarktzeit

Was gehört dazu? Heißer Punsch, gebrannte Mandeln, und … hmmm … Bratwurst! Nie schmeckt sie besser als an einem kalten Novembertag.

Ich verstehe ja nicht, warum Menschen auf Fleisch verzichten, damit keine Tiere getötet werden. Tragen sie alle nur Leinenschuhe und Plastikgürtel? Und überhaupt: Wenn wir Gemüse essen, töten wir doch auch. Wenn ich aus einer Knoblauchzehe den Keim herausschäle, leide ich mehr als beim Anblick einer Gulaschsuppe. Bei der sehe ich ja nicht, wer oder was es einmal war, aber das blasse Knoblauchbaby auf dem Weg ins Leben mit dem Gemüsemesser zu zermetzeln – das tut weh.

Fruktarier nehmen zwar auch auf lebendes Gemüse Rücksicht und essen nur das, was vom Baum fällt oder sonstwie freiwillig hergegeben wird. Aber hey! Ein Apfelkern hat sich seine Zukunft auch anders vorgestellt als in menschlichem Gedärm und einer irdenen Kloschüssel! Wieviele Apfelbäume sind auf diese Weise schon am blühenden Leben gehindert worden? Und ich möchte sagen: Gott sei Dank! Wir hätten ja keinen Wohnraum mehr, wenn jeder Apfelkern der Welt zu einem Baum herangewachsen wäre.

Billige Fleischwaren aus Massentierhaltung kaufe ich niemals, aber gelegentlich eine Frikadelle  aus der Metzgerei des Vertrauens? Wir müssen nun einmal töten, was wir essen, die Natur hat gesprochen. Oder wie seht ihr das?

 

 

Die Allee

Wenn ich einmal durch diesen Tunnel gehe, dann soll er so sein wie diese Allee. Die Kronen der Baumreihen schließen sich über mir, Licht fließt durch das Laub, auf den Feldern liegt dicker Wildkräuterflaum. Es riecht wie nach einem Regenschauer.

Wenn ich durch diese Allee gehe, sind auch andere Menschen unterwegs: zu Fuß oder mit dem Rad machen sie sich auf den Heimweg nach einem langen Tag. Ich bin nicht allein, und das ist gut. Weiter vorne, am Ende der Allee, wird es hell. Vielleicht wartet dort jemand, doch das ist nicht wichtig. Ich setze einen Schritt vor den andern, höre die Vögel singen, es ist ein warmer Tag.

So träume ich manchmal, wenn ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause durch diese lange Allee radle. An ihrem Ende befindet sich ein kleiner Friedhof. Neulich standen wieder Menschen an einem offenen Grab, die Sonne schien ihnen auf die Schultern.

 

 

Herbstabend

herbstgelb

Dieses Motiv entdeckte ich auf dem Heimweg im Vorbeifahren. Es war das intensive Gelb der Obstbaumplantage, der leuchtende Lichtstreifen am Himmel und die gelbe Farbe auf der Rutschbahn, die mir ins Auge gesprungen waren. Es dauerte aber ein paar Minuten, bis ich einsah, dass mir das Bild nicht mehr aus dem Kopf gehen würde. Bevor der Himmel dunkel wurde, fuhr ich also rasch zurück und machte ein paar Aufnahmen. Auf einer ist mir noch ein Radfahrer mit eingeschaltetem Licht ins Bild gefahren. Perfekt! 🙂

Herbstabende voll weicher Helligkeit
Mit ihrem rührend rätselhaften Zauber…            weiterlesen

(Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew)

Das brennende Archiv

menschen gedenken eines menschen.
herz – brennendes archiv!
es ist erinnerung der engel;
erinnerung an alte gaben.
die formel tod, die überfahrt –
die wir zu übersetzen haben.

(Thomas Kling: Das brennende Archiv)

Gefunden in der Frankfurter Anthologie der FAZ, hier gibt es auch eine Interpretation.

Feuer

 

 

Es lebt

Auf dem Grab meiner Mutter ist eine Steinplatte vorgesehen. Ich habe auch schon organisiert, wer sie anfertigen wird, es ist alles besprochen. Mit einer solchen Platte ist das Grab immer aufgeräumt, man braucht nur im Herbst gelegentlich die Blätter abkehren, fertig.

Aber nun sind die Blumen noch da. Meine Mutter ging vor fünf Monaten, und die Pflanzschalen blühen immer noch, als gäbe es kein Morgen. Das Grab wächst und lebt. Ich lasse jetzt noch keine Steinplatte darauf legen.

Grab

Dezember-Haiku

Schwarzes Baumgeäst
mit feiner Pulverschneeschicht
Wir brauchen Brennholz

Was ist ein Haiku?

Das Haiku ist eine japanische Gedichtform, die als kürzeste der Welt gilt. Sie besteht aus einem Vers aus 3 Zeilen mit einer vorgegebenen Anzahl von Silben. Im Deutschen sind es üblicherweise 17 Silben, die in der Anordnung 5/7/5 auf die Zeilen verteilt sein sollen. Es dürfen aber auch weniger Silben sein.

Meist handelt es sich um konkret beschriebene Momentaufnahmen aus der Natur, Gefühle kommen nicht vor. Das Gedicht bleibt offen, der Leser fügt die Geschichte und damit verbundene Emotionen selbst zusammen.

Novembermorgen

Hinter ihren Lenkrädern sitzen die Menschen und starren mit trübem Blick auf die Fahrzeuge vor ihnen. Sie rollen in langen Blechkolonnen von den Außenbezirken zur Innenstadt, an Hauswänden und Eisentoren vorbei. Die Nacht hat sich noch nicht aufgelöst. Scheibenwischer streichen in langen Abständen den Nieselregen zur Seite, Scheinwerfer und Ampellichter spiegeln sich auf den nassen Straßen. Es geht nicht voran. An einer Bushaltestelle kauern vermummte Gestalten, der Wettermann spricht im Radio. „Es bleibt weiterhin kalt.“

Da rennen auf dem Gehweg plötzlich drei Kinder los. Sie rennen so angestrengt, dass auf ihren Rücken die Schultaschen wild hin- und herfliegen. Fluoreszierende Seitennähte schreiben kleine Lichtbögen in die Dunkelheit: mal blitzt es über der rechten, mal über der linken Schulter jedes Kindes. Die drei haben den Blick fest auf den einfahrenden Bus geheftet, gleich erreichen sie das Wartehäuschen. Während ich die in Weiß und Orange zappelnden Reflektorstreifen betrachte, fallen mir Schmetterlinge ein, die ich im Zoo einmal sah. Die hatten eine Art Leuchtflecken auf den Flügeln, und wenn sie herumflatterten, sah es auch aus, als ob sie blinken.

Schmetterlingskinder.

Novemberzauber

Distel-im-November (2)

 

„Verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen … “
(1. Buch Mose 3,17f).

So streng sehe ich das nicht. Gewöhnliche Ackerdisteln können – im richtigen Licht – immerhin recht hübsch sein. Heute fotografiert.

Novembernebel

Nicht viel zu sehen draußen
Eine trübe Suppe ist das
Blattlose Bäume in Dunstschwaden
Elstern husten sich heiser
Lass uns daheimbleiben

Was ist ein Akrostichon?

Der Begriff stammt aus der griechischen Sprache und bedeutet „Spitze, Äußerstes“ (akros) und Vers (stichos). Das Akrostichon war schon in der Antike, aber auch im Mittelalter und in der Barockzeit beliebt und macht bis heute vielen Menschen Spaß. Gemeint ist ein Schreibspiel bzw. ein Gedicht, bei dem die Buchstaben eines Worts senkrecht untereinander geschrieben werden und jeweils als Anfangsbuchstabe einer neuen Textzeile verwendet werden müssen. In jeder Zeile sollte etwas zum Thema des vorgegebenen Wortes gesagt werden.

Man kann damit auch Textfragmente, kleine Ideen oder Beobachtungen „verwursten“, die sonst nirgends hinpassen.

Ein Beispiel aus moderner Zeit stammt von Elfriede Hablé (*1934):
Lust = „Leben unter Strom“.

Novembergeplemper

Ich hatte da mal was vorbereitet. Novemberschwere Stimmungsbilder in Worte gefasst und hustende Elstern in Gedichte, aber was ist? Ich bin heut in den Wald marschiert bei 20 Grad und im T-Shirt, zahlreiche Spaziergänger waren auch unterwegs, Kinder rannten durch knisterndes Laub, die Bäume leuchteten im Sonnenschein und die Vögel jubelten, als wär nichts gewesen seit letztem April, es war ein Singen und Springen – wie soll man sich da ordentlich einmummeln? Wie die jahreszeitlich disponierte Klammheit und heraufziehende Wintereinsamkeit zum Anlass nehmen, Wärme im Herzen zu beschwören?

Wenn es so weitergeht mit der Klimaerwärmung, steht die Welt vor einer Neuordnung der Jahreszeiten und die Dichter haben viel zu tun.

 

Herbstblaetter (3)

Heute aufgenommen.

Umstellungssache

Jeden Herbst ist es dasselbe: Kaum ist die Zeit umgestellt, schon irre ich durch Treppenhäuser und Flure des Gebäudes, in dem meine Mutter lebt. Ich weiß nicht, warum ich hier bei Dunkelheit, die von einem Tag auf den andern auftritt, plötzlich an allen Lichtschaltern vorbeigehe, bei jedem Besuch. Zu Hause passiert mir das nicht. Aber diese Seniorenanlage ist erst wenige Jahre alt und vielleicht deshalb erwarte ich ein modernes Bewegungsmeldersystem mit automatischer Lichtsteuerung. Hat es aber nicht.

Statt dessen tasten die armen alten Leute – vielleicht auch nur ich – an schwach beleuchteten Wänden entlang, um einen Lichtschalter zu finden. Man geht ja zunächst weiter im Glauben, dass die Lampen gleich angehen, und wenn man erkennt, dass das nicht geschehen wird, ist kein Lichtschalter mehr da. Also schleicht man die Treppen wieder hinunter, zurück zum Eingang, jetzt hab ich einen gefunden. Schon sieht die Welt wieder so vertraut aus, wie es an diesem Ort eben möglich ist. Im nächsten Stockwerk renne ich wieder am Lichtschalter vorbei.

Ein langer Gang liegt nun vor mir, im Dämmerlicht sieht er ganz anders aus als sonst. Aus den Winkeln und Türrahmen könnte jemand nach mir greifen, ein Dämon zum Beispiel. Man sieht ja nix. Und wenn die Augen nichts zu tun haben, werden auch die Gedanken so laut. Ich arbeite mich zum Treppenhaus zurück. Wo der Lichtschalter ist.

An manches gewöhn ich mich einfach nicht.